Der Wahn der Liebe

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Freitagabend.Ich stehe vor dem Spiegel. Aus wunderschönen blauen Augen schaut mich mein Spiegelbild an. Ich tusche meine Wimpern und schminke mir den perfekten Lidstrich. Jetzt fehlen nur noch die Lippen. Mit sanftem Druck trage ich rote Farbe auf. Ein letzter Blick in den Spiegel verrät mir, dass ich gut aussehe. Ich greife nach meiner Handtasche und verlasse die Wohnung. Mit schnellen Schritten mache ich mich auf den Weg zur größten Party des Jahres.

Vordem verlassenen Fabrikgelände, auf dem die Party steigt, treffe ich auf meine beste Freundin. „Hey Süße!", ruft Kelly schon von weitem und haucht mir einen Kuss auf die Wange. Aus der alten Fabrikhalle hört man schon die wilden Bässe pulsieren.

Schon halb tanzend betreten wir das Gebäude. Die Luft darin ist heiß und riecht nach Alkohol. Sofort wird Kelly und mir ein Becher in die Hand gedrückt, dazu eine kleine rosa Pille. Wir stoßen an, dann schlucke ich die bunte Pille herunter und spüle mit Wodka-O nach. Der Alkohol rinnt meine Kehle hinunter und es dauert nicht lange, bis sich ein schwummriges Gefühl in meinem Kopf breit macht.

DieMusik dröhnt, der Bass hämmert und alle sind super drauf. Ich bewege mich im Takt des Liedes in Richtung der Tanzfläche und überlasse meinen Körper dem Beat. Kelly habe ich irgendwo in der Menge verloren, aber das ist mir gerade egal. Alles was zählt ist dieser Moment.

Ein schwarzhaariger Typ tanzt mich an und hält mir sein Bier hin. Ich nehme einen kräftigen Schluck. Einige Lieder und Drinks später beschließe ich, mir eine Pause vom Tanzen zu gönnen und gehe mit wackeligen Schritten zur Fensterfront, die die eine Wand der Halle einnimmt. Ich erblicke eine Schönheit. Sie steht abseits von der Tanzfläche und ihre großen blauen Augen blicken mich intensiv an.Ihr Blick geht mir durch Mark und Bein und ihre Schönheit blendet fast schon. Ich gehe noch ein Stück auf sie zu und sie kommt mir entgegen. Vorsichtig lächeln wir uns an und ich begrüße sie. Doch die Schönheit bleibt stumm. Ihre Lippen bewegen sich jedoch. Habe ich sie nicht gehört, weil die Musik zu laut ist?

Ich gehe einen weiteren Schritt auf sie zu, doch plötzlich ist Kelly da und zieht mich auf die Tanzfläche. „Ich habe dich gesucht!",schreit sie mir mit heißerer Stimme zu. „Ich habe gerade das heißeste Mädchen klar gemacht. Also zumindest fast..." Auf einmal wird das Licht dunkler, sodass man nur noch schemenhaft etwas sehen kann. Ich drehe mich noch einmal um, doch die stumme Schönheit ist verschwunden.

Ein dumpfes Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit, doch diese Enttäuschung vergesse ich nach ein paar Shots wieder. Irgendwann meldet sich meine Blase und ich dränge mich durch die tanzende Menge. Als ich es dann an das andere Ende der Fabrikhalle geschafft habe, bin ich unendlich verschwitzt.

Im Gang vor den Toiletten begegnet mir wieder die Schönheit. „Hey Süße, da bist du ja wieder!", hauche ich und die Frau wirft mir einen lasziven Blick zu. Das Verlangen nach einem Kuss von ihrer füllt mich. Schnell verringere ich den Abstand zwischen uns und hauche ihr einen Kuss auf die Lippen. „Deine Lippen sind so...so... kalt!", flüstere ich. Und auch ihr Mund scheint etwas zusagen, doch es dringt nicht an mein Ohr, auch hier, wo die Musik gedämpft ist.

„Was fällt dir ein", schreie ich sie an, „ich rede mit dir und du, du machst mir einfach alles nach!" Auch ihr Gesicht schaut nun zornig drein. Aufschäumende Wut nimmt mich vollkommen ein. In meinem Wahn streife ich die Pumps von meinen Füßen und werfe nach ihr.

Plötzlich klirrt es und sie ist weg. Einfach weg. Der Boden ist bedeckt von Bruchstücken Ich gehe in die Hocke, greife danach und schneide mich an einer scharfen Kante. Und plötzlich erkenne ich in der Scherbe die Schönheit wieder. Plötzlich verstehe ich. Das da bin ich!

Ich bin sie.

Sie ist ich.

Plötzlich strömen heiße, salzige Tränen meine Wangen hinunter. „Ich habe sie geliebt... aber da sie ja ich ist, wie kann diese Liebe, dieses Verlangen, gestillt werden?", schluchze ich. Menschen kommen vorbei und gehen einfach in einem großen Bogen um mich herum. Entsetzt starren sie mein Spiegelbild an, nicht mich. Neben meinem Abbild kann ich nicht bestehen. Ich schließe meine Faust und der Schmerz fühlt sich gut an. Die scharfen Kanten des Spiegels bohren sich tief in meine Handinnenflächen. Plötzlich habe ich eine Idee, wie ich diesem Fluch entkommen kann.

Es gibt nur einen einzigen Ausweg!

Ich stürze barfuß nach draußen. Die kalte Luft schlägt mir entgegen und raubt mir für einen kurzen Augenblick den Atem. Ich setze mich auf den Bordstein. Um diese Zeit ist das Industriegebiet verlassen.Das Verlangen nimmt mich vollkommen ein. Ich senke die Scherbe auf die jungfräuliche Haut. Blaues Blut pulsiert durch die Adern.

Ich hole tief Luft und drücke die Scherbe fester auf mein linkes Handgelenk. Die Haut springt an dieser Stelle auf und einige Tropfen Blut laufen an meinem Arm herunter. Ich spüre den Schmerz kaum.Alles was ich wahrnehme, ist das Verlangen, den Fluch zu beenden.Langsam ziehe ich die Scherbe noch ein wenig nach hinten.

Kurz beobachte ich das Blut, das immer mehr wird. Dann wiederhole ich den Schnitt auf der anderen Seite und klammere mich schließlich an die Scherbe.

Am Boden sind bereits zwei relativ große Blutpfützen zu sehen, als ich spüre, wie ich langsam schwächer werde. Das Leben verlässt mich langsam. Ich werde plötzlich müde, unheimlich müde. Ich lege mich auf die Seite, mit dem Kopf auf das harte Kopfsteinpflaster. Rote Perlen rinnen über den Handballen, die blasse Handinnenfläche, bis an den Abgrund heran. Sie tropfen schließlich von den zarten Fingern und fallen auf den harten Asphalt.

Tropf,tropf, tropf.

Es sieht so wunderschön aus. Plötzlich gleitet die Scherbe aus meiner rechten Hand, zerspringt auf der Straße. Aus leeren Augen blickt mich das zersplitterte Antlitz einer jungen Frau an.


Dann weicht das Leben aus ihr.



„Mama,Mama, schau mal, so eine wunderschöne Blume!", ruft das kleine Mädchen. Eine tapfere Narzisse hat sich durch das triste Kopfsteinpflaster. Des Gehwegs gekämpft. Eine zarte Gestalt zwischen den harten, grauen Gebäuden in diesem heruntergekommenen Industriegebiet.

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⏰ Last updated: Mar 12, 2016 ⏰

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