Kapitel 1

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Ich rannte.

Ich rannte so schnell ich konnte, doch das seltsame Ding war schneller.

Ich sprang über Wurzeln, Steine, Äste, stolperte durch das Unterholz und zerkratze mir meine Arme an Dornenbüschen. Aber es half alles nichts, ich konnte nicht fliehen.

Plötzlich sprang das Ding von einem Baum, direkt vor meine Füße. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Es baute sich auf, in seiner vollen Größe - die immerhin einem stattlichen Wert von knapp 3 Metern entsprach - und jaulte laut auf. Dann beugte es sich über mich, öffnete sein großes Maul und entblößte mehrere spitze gelbe Fangzähne.

Ehe es drohte, mich damit aufzuspießen, trat es auf einmal einen Schritt zurück und fing an, laut zu singen. Zuerst waren es unverständliche Laute, doch dann wurde die Melodie klarer und lauter.

All I Want For Christmas Is You von Mariah Carey.

Und in dem Moment wusste ich, was los war.

Erschrocken wachte ich auf und setzte mich kerzengerade ins Bett.

Es war nur ein Traum - natürlich war es nur ein Traum. Ich wusste, ich hätte gestern die Folge Supernatural nicht mehr gucken sollen.

Es war die erste Serie, die ich dieses Jahr anfing und sie fesselte mich jetzt schon. Ich hatte zwar eine Regel aufgestellt: Sie nur zu gucken, wenn es draußen hell ist; Aber gestern hatte ich bereits bei der zweiten Folge eine Ausnahme gemacht. Normalerweise konnte ich Horror einigermaßen gut ertragen - soweit man Supernatural als Horror bezeichnen konnte - allerdings gebe ich ja zu, dass mir doch der ein oder andere Schauer über den Rücken läuft, wenn es dunkel ist und ich allein Zuhause bin.

Zumindest war es gestern Abend so, jetzt schien ich nicht mehr allein zu sein.

Meine Schwester lief mit ihrer vom Weihnachtsmann gebrachten Bluetooth-Box durchs Haus und hörte Mariah Carey in Dauerschleife. Ich wette, sie weiß nicht einmal, dass das Lied schon im Radio gedudelt hat, als sie noch nicht einmal geplant war.

Genervt schlug ich die Decke weg und bereute es gleich wieder. Wie immer war es in meinem Zimmer so kalt wie am Nordpol.

Ich kroch unter der Decke zum anderen Ende des Bettes und drehte die Heizung hoch.

Jetzt hieß es warten.

Ich nahm mir mein Handy und schaute, ob es Neues bei unserer Planung für heute gab.

Ja. Und es waren keine guten Nachrichten.

Ich hatte gestern mit meinen Freundinnen geplant, Schlittschuhlaufen zu gehen, was sich aber allem Anschein nach nun erledigt hatte.

Die Mutter meiner besten Freundin Maria konnte uns nicht fahren und mein Vater hielt es für angebracht, mich von seiner Arbeit aus bei dem Schneefall Zuhause zu behalten und mir vorzuschreiben, ich solle heute nicht irgendwo hinfahren, geschweige denn mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisen.

Ich schaute aus dem Fenster und verstand auch, warum: Es schneite wie in Frozen.

Auf unserem Rasen verdichtete sich eine 20 Zentimeter dicke Schneeschicht und die Äste des alten Apfelbaumes gaben unter dem Gewicht der Schneemassen nach.

In gewisser Weise konnte ich ja die Argumentation meines Vaters nachvollziehen - was allerdings nicht hieß, dass ich es ihm verzieh.

Seufzend stand ich mit der Decke umschlungen auf, suchte mir meine Jogginghose und einen dicken Pulli und tapste auf dem kalten Boden ins Badezimmer. Hier war es wenigstens warm.

Ich zog mich um, putze mir die Zähne, ging aufs Klo und diskutierte dabei weiter mit Maria und Lena, was wir jetzt machen sollten.

Zum Schluss stand der Plan, dass wir uns bei mir treffen wollten, um zuerst auf dem kleinen Abhang hinter unserem Garten auf den Schlitten Snowboard zu fahren. Danach würden wir zum Rodelberg laufen. Dieser lag in unserem Ort am anderen Ende und war circa zwei Kilometer von meinem Haus entfernt.

Als ich die Badezimmertür wieder aufschloss, dröhnte mir die altbekannte Melodie entgegen.

"Katharina!", brüllte ich durch das Haus.
Unter normalen Umständen würde ich jetzt Ärger bekommen, ich solle nicht so laut durchs Haus rufen, doch glücklicher Weise war es der vorletzte Ferientag und meine Eltern mussten beide schon wieder arbeiten.

Selbstverständlich bekam ich keine Antwort, wie denn auch, Kats Musik war ja lauter als alles andere.

Wie konnte sie am fünften Tag des neuen Jahres immer noch Weihnachtslieder hören? Und dann auch wieder und wieder das Gleiche in Dauerschleife?

Ich brachte meine Decke und den Schlafanzug zurück in mein Zimmer, wo die Temperatur jetzt einigermaßen erträglich war und suchte die Quelle des Lärms.

Letztendlich fand ich Kat unten in der Küche. Sie stand neben dem Kühlschrank und machte sich etwas zu essen.

Die Bässe ihrer Bluetooth-Box brummten so laut, dass die Box trotz Schutzhülle langsam an den Rand der Küchenzeile wanderte. Kat sang lauthals mit und murmelte irgendwas Unverständliches bei der zweiten Strophe, da sie nicht in der Lage war, sich den Text zu merken. Ein Wunder, dass sie die erste Strophe konnte, bei ihrem grottigen Sechstklässlerenglisch.

"Mach das aus!", schrie ich ihr ins Ohr und sie zuckte zusammen.

"Mann Frieda! Spinnst du?"

Kat sprang zurück und fasste sich ans Herz. Ich nahm ihr Handy und drückte auf Pause.

"Ich hätte einen Herzinfarkt bekommen können!", übertrieb sie mal wieder maßlos.
"Und dann wärst du schuld! Mama und Papa wären enttäuscht und du würdest verstoßen werden. Oder eingeknastet! Dann wärst du für immer weg und ich kriege dein Zimmer!"

"Toller Plan, nur du hast vergessen, dass du dann tot bist."

"Ouh..."
Kat grinste mich schief an.
"Ich hab dann aber den Wiederbelebungstrank. Haha!"

"Lass deine Musik aus oder mach sie leiser", kam ich zurück zum ursprünglichen Thema.
"Ria und Lena kommen gleich."

"Boha, wieso kommen deine Freundinnen so oft? Das nervt voll! Kannst du nicht einmal zu denen gehen?"

"Du nervst und nein, kann ich nicht."

Ich griff an ihr vorbei und schnappte mir die Papiertüte, um mir ein Brötchen rauszuholen und auf den Toaster zu legen. Ich ging an den Kühlschrank und entschied mich für Frischkäse mit Wurst, so wie eigentlich immer.

"Kannst du mir bitte mal den Parmesankäse geben?", fragte Kat und holte sich ein Glas aus dem Schrank.

Skeptisch schaute ich sie an.

"Und den Ketchup", fügte sie hinzu.

"Du sollst deine Ekelpampe nicht immer machen, der Käse ist teuer und im übrigen ist das mega widerlich", verwehrte ich ihr die Lebensmittel.

"Du hast mir gar nichts zu sagen", zickte sie und nahm sich die Sachen selbst.

Während ich mir mein Brötchen schmierte, sah ich ihr angewidert dabei zu, wie sie den Ketchup mit dem geriebenen Käse in dem Glas vermengte.

"Das sag ich nachher Mama", ließ ich sie wissen und ging an ihr vorbei auf die Treppe.

"Mach doch!", rief sie mir hinterher.

"Tu ich auch!"

Ich machte meine Zimmertür zu, setzte mich an meinen Schreibtisch und fing an, mein Brötchen zu essen, aber natürlich nicht, ohne vorher eine weitere Folge Supernatural anzumachen. Schließlich war es hell draußen.












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