Part 1

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Weil wir verheimlichen

»Fahrt sie hoch.«

Ruhig lag der Blick Dr. Mellicks auf der gläsernen Röhre, in der sich nun der Boden öffnet und eine Plattform nach oben fuhr. Seine Arme waren vor der Brust verschränkt, die rechte Hand rieb das bärtige Kinn, während seine Augen stur auf den Glasbehälter gerichtet waren.

»Mr Finnigan, die Daten«, befahl Mellick, ohne den Assistenten an seiner Seite anzuschauen. Dieser hielt ein Klemmbrett mit einigen ausgefüllten Formularen in den Händen, in denen er nun herum blätterte und die passenden Informationen heraus suchte.

»Sie heißt Clare Laungard, 20 Jahre alt, kommt aus Exeter, Großbritannien. Sie wurde vor drei Tagen hergebracht, hat bisher tief und fest geschlafen. Ihre Kernstaub-Kräfte haben sich noch nicht gezeigt.«

»Wer ist ihre Anomalie?«

Der eisige, ernste Blick des Doktors wandte sich nun zu seinem Assistenten. Dieser begann, verlegen auf der Unterlippe herum zu kauen, zögerte kurz mit der Antwort.

»Unbekannt, Sir«, antwortete er dann und schaute seinen Chef mit seinen braunen Augen an.

»Unbekannt?«, fragte dieser ruhig. Zu ruhig. In seinem Inneren brodelte sicher die Wut auf die Mitarbeiter Finnigans, die ihren Job nicht gut gemacht und den Namen der Anomalie nicht herausgefunden hatten. Finnigan wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, sich darauf gefasst machen, angeschrien zu werden, doch einer seiner Kollegen kam heran geschlichen und unterbrach ihn.

»Julian, kann ich kurz mit Dr Mellick reden?«, fragte der große Mann mit runder Brille auf der Nase und schütterem ergrauten Haar an den Blonden, der nickte, sich aber bei Mellick erst einmal erkundigte:

»Bin ich entlassen, Sir?«

»Ja, Finnigan, Sie können gehen. Durchforsten sie die Daten der letzten Woche vielleicht findet sich noch etwas Brauchbares«, antwortete Mellick und scheuchte Julian Finnigan mit einer Handbewegung weg.

Der Angesprochene nickte, ließ das Klemmbrett sinken und drehte sich auf dem Absatz herum. Doch er ging langsam, wollte noch mitbekommen, was sein Kollege mit Mellick zu besprechen hatte.

»Dr Mellick, Sir, wir haben den Namen der Anomalie von Miss Laungard gefunden«, sagte der Grauhaarige und Dr Mellick nickte stolz.

Julian war stehen geblieben, starr vor Schreck. Sie wussten, wer die Anomalie war? Er schüttelte alle bösen Gedanken, die ihm in den Sinn kamen ab und ging weiter. Es durfte nicht aussehen, als hätte er gelauscht. Er warf einen Blick über die Schulter, sah wie der dunkelhaarige Mellick und der Grauhaarige miteinander sprachen, doch sein Blick ging zu der Glasröhre, in der sich nun etwas regte. Das Mädchen. Clare Laungard. Sein Kernstaub.

Julian hatte sich in eines der kleineren Labore geflüchtet, von denen es hier mehr als genug gab. Eines davon war sein eigens eingerichtetes Büro, auch wenn darin lauter Laborkram herumstand und keine Büro-Atmosphäre aufkam. Die Organisation zur Untersuchung des Nebelechos - kurz OZUN - bei der er unter Vertrag stand, hatte ihre Hauptzentrale und die Laborgebäude im Norden Kanadas errichtet. OZUNs Ziel war es, so viele Kernstaube und Anomalien wie möglich zu finden und zu untersuchen, sodass sie herauskristallisieren konnten, wie die Welt aufgebaut war, was die Sphären waren und wie der Kern alles kontrolliert. Das Wie?, das Wer? und das Wieso? standen hier im Mittelpunkt der Forschungen.

Dutzende Formulare, Akten, Papiere lagen vor ihm auf dem Schreibtisch verstreut. Julian fuhr sich angestrengt durch das blonde Haar, das zerzaust von seinem Kopf abstand und leichte Locken zeigte. Die Ärmel seines hellblauen Hemdes hatte er hochgekrempelt, den weißen Laborkittel, den er immer trug, über die Lehne des Schreibtischstuhls gehangen. Eine dampfende Tasse Kaffee stand vor ihm, während er die Dokumente der letzten Stunde durchsuchte, nur um einen einzigen Namen zu finden: den der Anomalie. Julian wusste, dass seine Kollegen die Daten immer wieder in die zugehörigen Akten legten, doch diese war unvollständig. Die Akte Laungard war die aktuellste, Clare erst seit wenigen Tagen hier untergebracht. Vor ihm lagen nun alle Infos über Clare Laungard, deren Zweitname Maria war, ihre Lieblingsfarbe Orange und ihr Lieblingsessen Pizza. Doch nirgendwo ließ sich die Akte mit der Anomalie finden. Wo war sie nur hin? Sicher gab es doch schon eine, wenn sie den Namen herausgefunden hatten.

»Verdammt«, stieß Julian wütend aus, schlug mit zu Fäusten geballten Händen auf die Tischplatte, sodass ein wenig Kaffee aus der Tasse schwappte. Er stupste sich vom Tisch ab, rollte ein paar Zentimeter mit dem Stuhl nach hinten und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, während er die Beine ausstreckte. Er seufzte, seine Mimik war eindeutig ideenlos darüber, was er nun tun sollte. Angst keimte in ihm auf. Sorgen um Clare, Sorgen um sich selbst.

Ein Klopfen an der Tür, durchbrach seine stillen Gedanken und aufgeschreckt erhob er sich vom Stuhl. Der Raum war nur spärlich beleuchtet, die meisten Geräte standen still und ausgeschaltet herum, nur die Schreibtischlampe schenkte ein gewisses, dämmriges Licht.

Als Julian die Tür öffnete und die Neonröhren im Flur seine Netzhaut zu verbrennen schienen, kniff er erst einmal die Augen zusammen, ehe er erkennen konnte, wer vor der Tür stand. Es war eine kleine, etwas dickliche Frau: Martha, die Sekretärin von Dr Mellick, die heute ein Kostüm der Farbe feuerrot, das sie oft in verschiedenster stilistischer Ausführung, trug.

»Das soll ich Ihnen vom Doktor geben, er meinte es wäre Ihre Patientin und daher ihr Fall«, sagte sie mit ihrer hohen, schrillen Stimme und Julian war fasziniert von ihrer akkuraten Hochteckfrisur.

»Meine Patientin? Ich hatte noch nie einen eigenen Patienten, ich bin doch noch Assistent«, antwortete Julian verwundert, fuhr sich durch das blonde Haar.

»Offenbar sieht das der Doktor anders.« Martha hielt ihm drängend den braunen Umschlag vor die Nase und mit einem milden Lächeln nahm er ihn an.

»Dann muss ich wohl mal mit Mellick reden. Danke, Martha«, sagte er freundlich, Martha nickte und machte sich auf den Weg, zurück an ihre eigene Arbeit. Julian schloss die Tür hinter sich, durchquerte die Dunkelheit und legte den Umschlag vor sich auf den Tisch. Stöhnend ließ er sich in den Stuhl sinken, nahm einen Schluck Kaffee und öffnete den Umschlag.

»Na dann wollen wir mal sehen, was wir hier haben«, murmelte er und fischte ein paar Papiere aus dem Umschlag. Sie waren gekennzeichnet als Zusatzmaterial zu Clare Laungards Akte und Julian hielt kurz inne. Könnte es denn...? Könnte hier der Name der Anomalie stehen, den man herausgefunden hatte?

Das erste Blatt, eine Art Deckblatt legte er zur Seite und erstarrte dann. Er hatte recht gehabt: Hier stand der Name der Anomalie und seine Vermutung hatte sich bestätigt.

»J. Finnigan«, murmelte er, »Verdammte Scheiße.«




Galaxismeer - Über den Rauch an LaborgefäßenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt