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»Warum fängst du das Thema jetzt wieder an?«, fragte sie ihn.

»Ich weiß nicht«, erwiderte er. »Du wolltest doch persönlich reden. Über solchen Kram halt.«

Schon, dachte sie. Aber nicht wenn ich weiß, worauf es hinausläuft. Nämlich darauf, dass du dich selbst dadurch verletzt.

Sie sagte: »Ich dachte, das Thema wäre für dich erledigt gewesen. Du sagtest, du willst nicht mehr darüber reden.«

Er saß auf dem Bett und drehte seinen Schreibtischstuhl im Kreis. Es machte sie verrückt, doch sie wusste, dass das nur ein Zeichen seiner Unsicherheit war. Oder Nervosität. Vielleicht war es auch Angst. Das fühlte sie auch. Angst vor dem, was passieren könnte. Das alles,was ihr lieb und teuer an diesem Menschen war, verschwinden würde, sich auflösen würde wie altes, vergilbtes Papier. Sie verkrampfte ihre Hand.

»Will dich halt aber auch nicht zu was zwingen. Ist nicht meine Absicht«, sagte er.

Sie fragte sich, ob er nicht genau das mit diesem Satz tat. Es setzte sie enorm unter Druck. Sie wusste, wie ihre Gefühle standen und das sie nicht so waren wie seine für sie, aber er war ihr wichtig, auch wenn er das nicht zu glauben vermochte, und sie wollte auf keinen Fall, dass er sie allein ließ. Sie wusste, dass es irgendwie auch egoistisch war. Aber durfte sie das nicht auch mal sein, nachdem sie so viele geliebte Menschen verlassen hatten, ohne dass sie hätte etwas dagegen tun können? Sie wusste es nicht. Niemand hatte es ihr gesagt. Es stand auch in keinem Buch oder wurde in der Schule gelehrt.

Sowas sollten sie einen beibringen. Wie man mit innerlichen Konflikten umzugehen hat. Und wie man Menschen nicht verscheucht und verletzt.

Sie hatte noch so viel auf dem Herzen, so viel, was sie hätte sagen wollen. Doch es kam nicht raus. Es lag nur auf ihrer Zunge und schmeckte bitter. Sie wollte nichts Falsches sagen und ihn dadurch noch weiter verletzen. Denn oft hörten sich die Sätze in ihrem Kopf so gut an, aber wenn sie sie laut aussprach, dann wusste sie nicht, wie sie sowas überhaupt hatte denken können.

Und darum sagte sie statt all der Sätze in ihrem Kopf, von denen viele viel zu poetisch und viel zu kitschig klangen um ausgesprochen zu werden, nur: »Ich wollte den Zug gleich nehmen. Das ist doch alles doof.«

Und sie verfluchte das reale Leben und wünschte sich in eines ihrer Bücher, in denen immer alles so leicht erschien.

Er zupfte an der Lehne des Stuhles rum. Sie wusste wirklich nicht, was er dachte. Er sprach so selten darüber, verzog sich nur immer in sein Schneckenhaus.

Das letzte mal, als sie dieses Thema hatten, hatte sie alles falsch gemacht. Fast wäre alles zerbrochen und das hatte sie unsagbar traurig gemacht.

»Dann sollten wir uns beeilen«, sagte er und setzte sich träge in Bewegung.

Sie stand auf. Ihre Hand war eingeschlafen.


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Die Türen vom Zug standen alle offen. Er würde noch eine Weile am Bahnhof stehen. Doch ihr kam es vor als würde alles nur auf sie warten. Dabei war sie es, die wartete. Sie wartete auf ein Wunder, darauf, dass sich alles irgendwie von alleine lösen würde. Denn egal was sie machen würde, einer von ihnen würde mit Wunden aus diesen Krieg ziehen. Wenn nicht sie, dann auf jeden Fall er. Was sie wiederum auch verletzten würde. Innerlich schrie sie über diesen verdammten Teufelskreis.

»Fünf Minuten noch«, sagte sie, um überhaupt etwas zu sagen.

Er sagte nichts, schaute nur auf die Anzeigetafel.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

»Muss es nicht«, erwiderte er.

Er ging auf und ab, tippte mit seinem Fuß am Bordstein rum, ging dann wieder zum Zug, um gleich darauf wieder zum Bordstein zu gehen. »Ich weiß ja, wie du zu der Sache stehst. Und wie gesagt, zwingen will ich dich sicherlich nicht. Das würde nix bringen.«

Er schaute sie an und zuckte mit den Schulter. Er wirkte so verletzlich. Eine Sache, die sie nicht gerne bei anderen Menschen sah, vor allem nicht, wenn sie die Ursache für diese Verletzlichkeit war.

»Man«, sagte sie, »Ich kann da doch auch nichts für! Mir macht das keinen Spaß oder so.«

Und da spürte sie, wie die Tränen, die in ihren Augen gebrannt hatten, ihre Wangen runterliefen und auf ihre abgetragenen Schuhe tropften. Ihr fiel ein, dass sie beim Weinen die fürchterlichsten Gesichter zog, drehte ihren Kopf von ihm weg und wischte sich verstohlen über die Wangen.

»Shit«, platzte es aus ihr heraus.

Sie wollte nicht weinen. Das würde nur verursachen, dass er sich schlechter fühlen würde. Vielleicht würde er auch sauer werden, weil sie sich so benahm und er doch eigentlich der war, der verletzt wurde. Aber sie konnte sich nicht helfen. Sie wollte nicht, dass alles komisch wurde, sie wollte keinen Streit, wenn das denn überhaupt einer war, sie wollte nicht, dass er verletzt wurde und sie wollte sich selbst auch nicht verletzten.

Und ihr gingen die Optionen aus.

»Sorry«, murmelte sie in ihrer Panik.

»Komm her«, sagte er, ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. Es war eine richtige Umarmung, keine wie diese, die sie sich zur Begrüßung in der Schule gaben. Er schlang seine Arme um sie und sie schluchzte in seine Schulter.

»Ich will nicht, dass alles so doof wird. Ich will nicht, dass wir schweigend aneinander vorbei laufen. Kann nicht alles so bleiben wie es ist?«, fragte sie ihn.

»Wir können immer noch reden, uns treffen und so. Es wird vielleicht schwer, aber es bleibt sonst so wie es ist, ich kenn' ja deine Stellung dazu.«

Sie nickte dankbar. Dann stieg sie in den Zug.

Als sie saß und der Zug losfuhr, liefen ihr wieder still die Tränen über die Wangen.

Nichts wird so bleiben, wie es ist, dachte sie bei sich. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er es nicht mehr aushält.

Als ihr Handy durch ein Piepsen neue Nachrichten anzeigte, schaute sie erst nicht drauf. Sie wusste, dass sie von ihm waren. Sie hatte Angst, dass er jetzt schon schrieb, dass er nichts mehr mit ihr zutun haben wollte, sie war ihm nicht mal mehr die Mühe wert, es ihr ins Gesicht zu sagen.

Nach drei Haltestellen sah sie dann doch auf das Handy.

Er schrieb ihr, wie leid es ihm tat, dass sie wegen ihm geweint hatte und er ein dummer Idiot wäre.

Sie schniefte einmal geräuschvoll und antwortete: »Nein, dir muss gar nichts leid tun. Ich bin hier die doofe Kuh.«

Er schrieb einen lachenden Smiley und sie musste schmunzeln. Auch wenn sie eine tickende Zeitbombe waren, sollte sie die Zeit zwischen dem hier und jetzt und der Detonation nutzen. Er war ihr bester Freund und niemand wusste für wie lange noch.

Warum also nicht einfach dieses beklemmende Gefühl des Verlustes verdrängen und Leben, einfach nur das Menschsein genießen?


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