Freitag der 13. November

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"Das war dein erster Arbeitstag und du hast sofort ein ganzes Tablett mit Gläsern fallen gelassen!", erinnerte mich Luc. Beim Gedanken an Juni letzten Jahres musste ich kichern.

"Aber hey, es war Freitag, der 13. Da passieren solche Sachen nun manchmal", erwiderte ich. Er blickte mich an und strich mir eine Strähne hinters Ohr, die der Wind nach Vorne geweht hatte.

"Aber du willst doch nicht behaupten, dass es immer noch ein Unglückstag ist, oder? Immerhin habe ich dich nicht gefeuert!"

"Niemals. Wie könnte ich?", antwortete ich und schmunzelte in mich hinein.

Eigentlich war es schon etwas zu kalt, um draußen zu essen. Aber wir mochten die Sterne und den Mond. Ich hatte die rote Wolldecke, die uns die Kellnerin freundlicherweise gegeben hatte, fest um mich gewickelt und erstach gerade ein paar Nudeln in roter Sauce. Zwischen zwei Bissen trank ich einen Schluck Wein, den Luc extra hierfür ausgesucht hatte.

"Ich finde es echt gut, dass du das so durchziehst. Mit der Ausbildung. Dann hast du weniger Stress und wir hocken nicht die ganze Zeit aufeinander. Habe ich dir schon mal von Paul erzählt?" Ich schüttelte den Kopf. "Wir waren zusammen auf dem Lycée und ich habe danach noch ziemlich lange Kontakt zu ihm gehabt. Jedenfalls hat er auch neben dem Studium fast pausenlos gearbeitet und am Ende war es so viel, dass er einen Nervenzusammenbruch hatte", fuhr er fort.

"Wirklich?", fragte ich geschockt. "Das tut mir leid für ihn. Aber hat er es am Ende geschafft? Die Prüfungen, meine ich?"

Luc knabberte am Rand seiner Pizza und dachte kurz nach. "Ich weiß es echt nicht, danach ist der Kontakt abgebrochen. Aber deswegen bin ich umso glücklicher, dass du dich jetzt doch für die Ausbildung entschieden hast", erklärte er mir.

"Aber du wirst mich doch vermissen?", fragte ich neugierig und schwenkte währenddessen den Wein hin und her.

Luc lehnte sich über den Tisch leicht zu mir. "Naja", begann er. "Ich habe mir noch nie soviel Mühe mit der Einarbeitung einer Kellnerin gegeben, wie mit dir."

"Oha! So ungeschickt bin ich doch nun auch nicht!", rief ich empört, doch im Unterton hörte man deutlich ein kleines Lachen mitschwingen.

"Ob du es mir nun glaubst oder nicht, Süße... Aber jetzt ist meine ganze Arbeit ja Futsch! Elektronikerin für Betriebstechnik..." Luc schnaubte und schüttelte sich. "Und dafür habe ich dich jeden Abend den halben Vorrat an Geschirr durch die Gegend tragen lassen." Er murmelte eher, so dass ich mir gerade noch so erschließen konnte, was er sagte.

Und da begann es. Es dauerte zwei Sekunden, bis ich überhaupt identifizieren konnte, was ich hörte. Schüsse. Mehrere Schüsse. Luc war schneller, als meine Gedanken. Er sprang auf und riss an meinem Arm. Der Ruck traf mich so unerwartet, dass ich über meine eigenen Füße Stolperte und es beinahe nicht schaffte, aufzustehen. Doch das waren gar nicht meine Füße. Das war die Decke. Ich fiel wie eine Bahnschranke nach vorne auf den Boden. Es knallte wieder. Zweimal, dreimal, viermal. Luc beugte sich über mich, ich strampelte und versuchte, mich aufzurappeln, zur Tür zu rennen, ins Innere des Restaurants zu kommen. Luc zerrte an der Decke, um mich davon zu befreien. Er griff unter meine Arme, wollte mir hoch helfen... Fünfmal. Er erstarrte. Lucs Augen weiteten sich, er ließ mich los, taumelte einen Schritt von mir weg und fiel. Eine Sekunde verging, ohne dass ich etwas verstand.

"Luc?", flüsterte ich. Er regte sich nicht. Aus reiner Panik wiederholte ich seinen Namen etwas lauter, robbte über den Boden der Terrasse zu seinem Kopf, packte seine Schultern, schüttelte ihn, ich schrie seinen Namen: "Luc, Luc! Luc! Sag was bitte!" Ich blickte ihn an, seine Augen, die glasig waren, geweitet, einmal blinzelten. "Bleib bei mir!", brüllte ich ihn an. Wassertropfen regneten auf sein Gesicht nieder. Sie liefen an seinen Wangen hinunter. Meine Tränen vermischten sich mit seinen. "Bitte", flüsterte ich, umfasste sein Kinn fester. "Bitte kämpf! Du musst kämpfen,hörst du? Du musst kämpfen, du musst jetzt bei mir bleiben, hörst du? Bleib bei mir!" Luc starrte mich an, als begriffe er nicht, was ich gesagt hatte. Seine Lippen öffneten sich ein wenig.

"Ich liebe dich", krächzte er. Das letzte Wort ging im sechsten Schuss unter. Ich schrie auf, als sich etwas förmlich in meinen Oberschenkel einzubrennen schien. Mir wurde weiß vor Augen, dann kehrten die Farben wieder zurück. Und mit ihnen der Schmerz. Lucs Gesicht erstarrte unter meinen Fingern, seine Augenlider bewegten sich keinen Millimeter mehr. Und als ich ihm unter Schmerzen einen letzten Kuss auf die Lippen drückte, kam mir kein warmer Atem entgegen. Ich hatte eine Leiche geküsst. Mir kam das Essen im Halse hoch. Doch als ich versuchte, auf mein rechtes Bein zu steigen und mich von ihm weg zu schieben, schoss mir ein Schmerz in den Kopf, der alle Gedanken still legte. Ich hatte Luc verloren.

Keuchend schreckte ich hoch und stieß einen kleinen Schrei aus. Ich war schweißüberströmt. Alles wackelte und drehte sich. "Desinfektionsmittel", sagte jemand. Es war zu hell für meine Augen. Weißes Licht stach in mein Gehirn. Ich lag. Eine Feuerwehrsirene ertöne. Metallisches Klimpern. Ein scharfer Schmerz in meinem Oberschenkel ließ mich aufschreien. Ein Pieksen in meiner Armbeuge. Nochmal wurde alles schwarz.

Das erste, was ich hörte, war ein in regelmäßigen Abständen wieder kehrendes Piepsen. Ich öffnete die Augen und starrte an eine weiße Decke.

"Oh Liebling!" Jemand beugte sich über mich und strich mir übers Haar. Ich erkannte meine Mutter.

"Maman", flüsterte ich verwundert. "Was machst du hier?"

"Sie haben nur dein Bein getroffenen Liebling, alles wird wieder gut!", versicherte sie mir in einem besänftigenden Ton.

Mein Bein... ich versuchte mich daran zu erinnern- Mir wurde speiübel. "Luc", platzte ich heraus. "Was ist-?", weiter konnte ich nicht sprechen.

In Mamans Augenwinkel bildete sich eine Träne. "Es tut mir leid, Liebling."

Mit einem Schlag kam jeder Gedanke zurück. Jeder Geruch. Jedes Detail Jeder. Schuss.

"Letzte Nacht gab es an mindestens sechs verschiedenen Orten in Paris Anschläge, Liebling. Es gab über einhundert Tote. Die ganze Welt trauert mit dir. Mit uns allen", sagte Maman. Ich starrte sie ungläubig an. "Überall sind die Farben der französischen Flagge. Alle beten für uns in Paris."

"Und was bringt mir das?", fragte ich sie. "Was bringt es mir, wenn die Menschen an uns denken? Davon wird er nicht wieder lebendig! Luc ist tot! Er ist verdammt nochmal tot!" Die letzten Worte brüllte ich. Und mit dem, was ich sagte, tat ich mir viel mehr weh, als jemals einem anderen Menschen zuvor. Luc war tot. Und es war kein bisschen tröstlich, dass die ganze Welt auf meiner Seite stand. Selbst, wenn sie alle nur um IHN trauern würden, hätte es keinen Sinn. Sie machten es mir nur nicht möglich, es nicht zu glauben. Luc war tot. Der beste Mensch in meinem Leben war mir genommen worden.

Diese Geschichte soll euch nicht zeigen, wie schrecklich das alles ist. Denn das wisst ihr sowieso schon. Das ist nur nun mal meine Art, die Dinge zu verarbeiten.

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⏰ Last updated: Nov 16, 2015 ⏰

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Freitag, der 13. NovemberWhere stories live. Discover now