3. Kapitel: Lucy und Mo

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Am Nachmittag steht Sina wie angekündigt vor Lucys Tür und klingelt. Lucys kleine, nervige Schwester Emily öffnet.
"Lucy ist in ihrem Zimmer", sagt sie herausfordernd, so als erwartete sie eine Erklärung von Sina.
"Äh, ja", sagt Sina und schiebt sich an der aufmüpfigen Neunjährigen vorbei.
Lucy sitzt in ihrem Zimmer auf dem Bett, Kopfhörer auf den Ohren, Laptop auf den Knien. Sina lässt sich neben sie aufs Bett fallen und wirft ihre Jacke und Tasche von sich.
"Yo", sagt Lucy abwesend und ohne vom Bildschirm aufzusehen. Ihre langen, schwarzen Haare hat sie sich zu einer Art pferdeschwanzähnlichem Knoten zusammen gebunden und sie trägt nur Jogginghose und ein altes Holzfällerhemd. Sie nimmt einen Schluck von dem Energy Drink, das angebrochen neben ihr steht, hackt noch schnell etwas in die Tastatur und dreht sich dann zu Sina um.
"Und, was gibt's neues?", fragt sie, während sie sich die Kopfhörer vom Kopf zieht. Sina hört einen dumpfen, verzerrten Beat aus den Micky Mäusen.
"Nüscht", sagt sie. "Und bei dir? Warste wieder die ganze Nacht auf oder was?"
"Die letzten beiden Nächte", korrigiert Lucy sie und reibt sich die Augen. "Wie war es denn in der Penne? Schön mit deinem Verehrer an deinem Umweltprojekt gefeilt?"
Hin und wieder klingen Dinge aus Lucys Mund ungewollt bösartig, aber so sind sie in den allerseltesnten Fällen gemeint. Sina weiß das.
"Mein Verehrer und ich saßen nur ungefähr ne Viertelstunde bei den ganzen anderen Idioten, dann sind die ersten abgehauen und am Ende stellte sich raus, dass Frau Lamberz nicht da ist und jetzt bin ich bei so einem komischen 60ies Chor."
"Wow, das klingt ja, als hätte jemand seinen Vormittag sinnvoll genutzt!", sagt Lucy sarkastisch.
"Musst du grade sagen, oder?", sagt Sina und deutet auf den Laptop und die nach wie vor vor sich hin plärrenden Kopfhörer.
"Sag nichts!", ereifert sich Lucy. "Bin mit nem neuen Remix fertig geworden. Muss ich nachher noch Mo vorbei bringen, kommst du mit? Hast du überhaupt schon von seinem neuesten Projekt gehört?"
"Nee, was hat er vor?", fragt Sina.
"Das kann er dir später selber erzählen, wilde Geschichte. Also kommst du mit?"
"Sicher."
Moritz, genannt Mo, ist neben Lucy einer der wichtigsten Menschen in Sinas Leben. Sie kennt ihn, seit sie fünf Jahre alt ist. Damals war er ein dünner, blonder Rotzbengel, der immer aufgeschürfte Knie und immer Süßes in den Taschen hatte und den kein Erwachsener freiwillig in seinen Garten ließ. Mo war sozusagen der Huck Finn der Siedlung, und Sina bis über beide Ohren in ihn verknallt. So, wie man im Alter von fünf eben verknallt sein kann. Mo war schon fast sieben und ging schon zur Schule, trotzdem spielte er nach wie vor mit allen Kindern, egal, wie alt sie waren oder wie gut sie rennen oder klettern konnten. Mit seiner liebenswürdigen Art und dem frechen Grinsen schaffte Mo es, dass ihn jeder sofort ins Herz schloss. Sogar Nick mochte ihn in der Anfangszeit noch. Das änderte sich irgendwann, aber das ist Sina inzwischen egal, so wie ihr fast alles egal ist, was ihr Bruder treibt.
Inzwischen ist Mo eine Menge, aber kein blonder Rotzbengel mehr. Zumindest für Lucy. Für sie ist er Kumpel, Ticker, Lover, Arbeitgeber, für Sina wird er für immer der Rotzbengel sein, der ihr einen selbstgepflückten Pusteblumenstrauß schenkt, weil er ihr kein Geburtstagsgeschenk kaufen kann. Mo redet selten über seine Vergangenheit und Kindheit, bevor er der selbstständige Mo von heute wurde, aber Sina weiß trotzdem in etwa, wie sein Leben verlaufen ist. Wenn man sich Jahre lang kennt, dann weiß man gewisse Dinge einfach, ohne großartig darüber gesprochen zu haben. Seit Sina Mo kennt hat sie den Wunsch, dass Mo ihr Zwilling ist und nicht Nick. Manchmal kommt es ihr wie das einzig logische vor. Über Mo kennt Sina auch Lucy. Mit zwölf wollte Mo abhauen. Sina war grade zehn und er wollte, dass sie mitkommt. Sina war hin und hergerissen. In der verabredeten Nacht packte sie ihren kleinen Rucksack und kletterte aus dem Fenster. Wie immer war sie etwas zu früh am Treffpunkt. Sie wartete und wartete und während sie wartete, wurde sie immer unsicherer. Wenige Minuten, bevor Mo auftauchte, schnappte sie sich ihren Rucksack, redete sich ein, dass das ganze verrückt sei und stiefelte wieder nach hause. Am nächsten Morgen vor der Schule wartete sie auf Mo, aber er kam nicht. Enttäuscht ging Sina in die Schule. Er war wirklich ohne sie gegangen. Als sie Mittags nach hause kam, war ihre Mutter total aus dem Häusschen, die kleine Tochter der Mayerhofers war über Nacht verschwunden. Sina hatte keine Ahnung, wer die Mayerhofers waren, aber es erschien ihr doch ein recht merkwürdiger Zufall zu sein.
"Gut, dass meine Kinder so einen Unsinn nicht machen!", rief Franziska laut aus und strich Sina und Nick übers Haar. Zum Nachtisch gab es Schokopudding. Vielleicht war zuhause ja doch nicht alles schlecht, dachte Sina. Aber wer weiß. Vielleicht gab es bei der Tochter der Mayerhofers ja wirklich niemals Pudding zu essen. Drei Tage später war Mo wieder da. Im Schlepptau hatte er ein dürres Ding mit wilden, schwarzen Haaren, die von da an immer mit ihnen durch die Straßen zog. Sina Wohltmann und Lucy Mayerhofer bekamen im Gegensatz zu Mo die Gymnasialempfehlung und so kam es, dass die beiden Mädchen immer mehr zuzweit unternahmen. Mo beendete sie Schule frühzeitig und fing an zu arbeiten wie ein Tier. Oft hatte er drei Jobs gleichzeitig. Lange fragten Sina und Lucy sich, warum er sich das antat, denn Mo war bei Gott kein Geldgieriger Sack. Die Wahrheit ist, dass Mo so viele Jobs braucht, um sich durchzuschlagen. Er ist alleine, warum und ob er freiwillig alleine ist, darüber redet er nicht, aber Fakt ist, dass er es selber schaffen will. Für alles andere wer er viel zu stolz. Mo ist jemand, der sich festbeist.
"Wie steht's denn im Moment zwischen euch?", fragt Sina vorsichtig. Lucy zuckt mi den Schultern.
"Im Moment? Im Moment ist er der DJ der mit ein bisschen Glück meine Songs auflegt und ich auch endlich zu ein bisschen Erfolg komme!", brummt Lucy.
"Aha", sagt Sina unzufrieden. "Ganz sicher, dass du nicht passiv-aggressiv die Nächte durch machst und dir irgendwelchen Synthetik Kack reinziehst, damit er in dir... keine Ahnung... irgendetwas, nun, positives sieht?", sie zieht die Augenbrauen so hoch wie möglich.
"Ach, halt sie Klappe, du Seppel!", sagt Lucy und springt vom Bett auf. "Lass du dich mal erst von deinem Lasse beglücken und dann reden wir weiter!"



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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 28, 2015 ⏰

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