1. Kapitel: Ein guter Start in den Tag

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Wenn man morgens früh aufstehen muss, gibt es einen Trick: Man muss, wenn der Wecker geklingelt hat, aus dem Bett springen, Kaffee in sich reinkippen und sich unter die Dusche stellen, bevor der Körper gemerkt hat, dass er wach ist. Dann hat man quasi gewonnen. Sina hat das perfektioniert. Es ist Montag morgen, mitten im Oktober, der Wecker klingelt und zehn Sekunden später steht sie mit ihrem Lieblingsbecher vor der Kaffeemaschine. Sie will grade mit dem koffeinhaltigen Heißgetränk ins Bad, als ihr Zwillingsbruder an ihr vorbeirast und ihr die Tür vor der Nase zuschlägt.
"Nick!", brüllt sie und hämmert an die Tür.
"Ätsch, Schwester!", kommt es von drinnen und Sina hört, wie die Dusche angeht.
"Mann, Nick ich hab zur ersten Stunde!", brüllt Sina, aber Nick hört sie nicht. Er singt unter der Dusche.
Sina hämmert noch ein, zwei mal halbherzig an die Tür, dann schlurft sie mit ihrem Kaffee zurück in die Küche und setzt sich am Küchentisch nieder, wo ihr Stiefvater sitzt und Zeitung liest. Zu ihrem biologischen Erzeuger haben Sina und Nick nur allerseltenstens Kontakt und Leo und ihre Mutter sind schon so lange ein paar, dass sich die Zwillinge an ein Leben ohne ihn kaum noch erinnern können.
"Na, alles fit, Kleines?", fragt Leo beiläufig während er seinen Tee umrührt und Sina über den Rand seiner Lesebrille mustert.
"Nä", brummt Sina und nippt verdrießlich an ihrem Kaffee.
"Was los?", fragt Leo.
"Nix eigentlich", sagt Sina. "Nur heute geht diese kack Projektwoche los, wo ich fünf Tage am Stück mit den Spastis aus der Parallel irgendwelche Plakate basteln darf."
"Du hast doch deinen Bruder dabei", sagt Leo grinsend. Ihm ist klar, dass Sina mit Spastis aus der Parallel natürlich auch Nick gemeint hat.
"Eben nicht!", sagt Nick schadenfroh und kommt tropfend und barfuß in die Küche getapst. "Ich hab Fußball gewählt und das geht erst um zehn los".
"Was war das denn für eine drei-Minuten-Dusche?", fragt Sina und rümpft die Nase. "Bloß nicht zu viel Hygiene, oder was?"
Bevor er noch irgendwas dazu sagen kann, springt Sina auf und rennt ins Bad, bevor ihr noch irgendwer anders zuvor kommen kann.
"Ey du Lappen, da sind noch meine Klamotten drin!", brüllt Nick ihr hinterher aber Sina hat schon das Radio angemacht und sich unter das heiße Wasser gestellt. Gott, tut das gut. Diese Dusche ist mit Abstand ihr Lieblingsort im ganzen Haus.
Sina, Nick, ihre Mutter und Leo leben in einem Reihenhaus im Stadtzentrum. Zur Fußgängerzone, zur Schule, zum Park und zum Bahnhof sind es mit dem Fahrrad nie mehr als zehn Minuten. Klar, wer hier wohnt, zahlt für die Lage mit, aber das können Leo und Franziska Wohltmann sich leisten. Auch das private Gymnasium für ihre Kinder und das Schlagzeug für Nick und den Malkurs für Sina können sie sich leisten. Leo ist Chefredakteur bei einer bekannten Satirezeitung und Franziska ist Scheidungsanwältin. Die beiden haben sich auf einer Demo kennengelernt und gehen immer noch regelmäßig ins Kino, in einen Club oder zu linken, politischen Veranstaltungen. Außerdem spielen sie jedes zweite Wochenende Badminton, früher manchmal mit den Zwillingen, inzwischen meistens ohne die beiden. Im Freundeskreis der Zwillinge gehören Franziska und Leo zu den beliebtesten Eltern. Nicht zu alt, nicht zu peinlich und chillig, was Partys angeht.
Sina steigt aus der Dusche, trocknet sich ab und greift nach ihrem Handy. Drei neue Nachrichten, alle von Lucy, Sinas bester Freundin:

Ich komm heut nicht, habe Halsschmerzen.

Nein, war gelogen, ich hab keinen Bock auf diese komischen Projekte.

Geh mal auf diesen Link, voll das abgedrehte Video!!!!!

Sina hat ja fast schon damit gerechnet, dass Lucy diese Woche nicht in der Schule auftauchen würde, da ihr nichts so sehr zuwider ist wie Gruppenarbeit oder generell Situationen, in denen sie mit Menschen kommunizieren muss. Trotzdem ist sie ein bisschen enttäuscht. Mit Lucy wäre das ganze wenigstens aus einer soziologischen Perspektive witzig gewesen. Sie hätten die anderen beobachten und heimlich nachahmen und sich später beim Mittagessen darüber lustig machen können, aber ohne Lucy macht sowas einfach keinen Spaß.
Sina hat nicht wirklich viele Freunde in ihrem Jahrgang. Sie kennt zwar ein paar Leute, mit denen sie ganz gut klar kommt, aber jemanden, mit dem sie wirklich freiwillig Zeit verbringen würde, gibt es nicht. Von Lucy natürlich abgesehen. Und Lasse aus der Parallelklasse, der seit neuestem immer bei den Fahrradständern auf Sina wartet, obwohl er mit der Bahn kommt. Lasse ist eigentlich ein Freund von Nick und das soll schon eine Menge heißen. Es gibt Zwillingspaare, die sich automatisch einen Freundeskreis teilen, weil sie eh alles gemeinsam machen. Zu dieser Art Zwillinge gehören Sina und Nick ganz und gar nicht. Das einzige, was die beiden verbindet, ist die Tatsache, dass sie knapp neun Monate Po an Po im Uterus ihrer Mutter vor sich hin waberten. Inzwischen sind sechzehn Jahre vergangen und die beiden haben sich seitdem nur weiter voneinander entfernt. Ihr Verhältnis ist nicht schlecht, sie streiten kaum, aber es ist oberflächlich. Sina hat oft das Gefühl, ihren Bruder gar nicht richtig zu kennen. Deshalb ist es eine ziemlich verdächtige Angelegenheit, wie Lucy treffend bemerkte, dass Lasse auf einmal so gesteigertes Interesse an Sina zeigt.

Ich komm nach der Schule zu dir und werf dich aus dem Bett, schreibt Sina Lucy zurück, bevor sie sich anzieht. Sie springt in ihre Jeans mit den vielen Flicken, zieht ein T-Shirt über, merkt zu spät, dass es eines von Nick ist, denkt: scheiß drauf, macht sich einen Pferdeschwanz und spurtet die Treppe hoch, um ihre Schulsachen zu holen.

Auch heute steht Lasse wieder beim Fahrradunterstand, als Sina auf ihrem Rennrad angerauscht kommt. Sie sieht ihn schon von der anderen Seite der Straße, wie er ihr fröhlich zuwinkt.
"Hey, Sina!", ruft er ihr zu und beeilt sich, ihr entgegen zu kommen. "Hast du jetzt auch Projektgruppe?"
"Jep", sagt Sina und schaut auf die Uhr. Nur noch vier Minuten. Mist. "Du auch?"
"Jawoll und ich habe auch schon ein paar ziemlich verrückte Ideen!"
Sina runzelt die Stirn. Irgendwie hat sie ein Problem damit, wenn Leute ihre eigenen Ideen als "verrückt" oder "crazy" oder, wenn es ganz schlimm kommt, als "abgespaced" bezeichnen.
"Ich dachte du wärst bei Fußball", murmelt sie. Für gewöhnlich tragen sich Nick und seine Freunde nämlich alle für dieselbe Sache ein und meistens für die, wo sie am wenigsten zu erledigen haben. Das hat schon zu hitzigen Diskussionen bei der Planung der Weihnachtsfeier oder eines Elternwochenendes geführt. Sina hält sich aus solchen Planungen meistens raus und wartet einfach ab, was ihr zugeteilt wird, dann regt sie sich ein paar Minuten drüber auf und dann akzeptiert sie ihr Schicksal.
"Nee, nee", sagt Lasse, als sie das Gebäude betreten. "Fußball wollte ich erst machen, aber dann hatte ich Lust, auch mal was neues auszuprobieren. Weißt du, Fußball ist super, die beste Sportart der Welt, wenn du mich fragst, aber man kann damit nicht wirklich was in Bewegung setzen! Deshalb hab ich mich bei diesem Projekt eingetragen. Außerdem habe ich gesehen, dass du und diese Lucy auch hier sind!", er grinst schelmisch.
Au Backe, denkt Sina, während sie vage zurück grinst und sich daran zu erinnern versucht, was denn noch mal das Thema dieses fucking Projektes war. Umwelt? Bestimmt irgendwas mit Umwelt!


Weil sich niemand sein Leben aussuchtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt