Kapitel 1

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Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch lebte oder existierte.
Ich war wie eine leerer, durchsichtiger Luftballon. Nur ohne Sauerstoff, denn der wurde mir soeben entzogen. Schlagartig. In Null Komma Nichts. Puff. Weg.
Mein Herz hämmerte und rumorte wie eine Dampfwalze. Ich saß mittlerweile im weißen, kalten Krankenhauswartezimmer. In meiner Hand hielt ich eine Karte, doch es war keine Genesungskarte oder so etwas. Dies waren wichtige Krankenkassenformulare und Polizeiberichte. Denn meine Eltern waren tot. Weg vom Fenster. Für immer.
Die Krankenschwestern und Pfleger zogen zaghaft an mir vorbei, Menschenmengen strömten hin und her, Notfälle wurden hektisch eingeliefert.
Das Leben zog an mir vorbei.
Und ich war alleine. Ich denke das war das Schlimmste in diesem Moment. Kein tröstender Kuss, keine warme Umarmung, kein leises Gerede. Kein gar nichts!
Irgendwo war noch Mr. Collins, mein Schuldirektor mit seinem geblümten Hemd und seiner Halbglatze. Vor Hektik und lauter Stress hatte der Arme nun einen Kaffeefleck auf seinem bunten Hemd, als er mit 2 Kaffees aus einem Gang wieder zu mir kam.
Er stellte mir die Tasse hin. Der warme Geruch von Mocca erinnerte mich sofort wieder an Weihnachten. Mum hat morgens Mocca Kaffee gekocht und selbst gemachten Lebkuchen gebacken. Ich weiß noch, dass ich mich an dem brühend heißen Mocca verschluckt hatte und meine Eltern laut loslachten. Zack, da war dieser Moment, wo Mum die Kamera zückte und uns verewigte. Auf ewig. Es war zum Heulen schön und friedlich.
Und da kam sie: Die erste, heiße Träne, die im Wettlauf mit der Zeit meine Wangen runter rollte. Nein, nicht so heiß wie mein Mocca. Es war ein stechender und heißer Schmerz, der sich auf meiner Wange bildete. Er zog bis runter in meine Kehle, als ich sie verschluckte. Mein Hals brannte wie ein loderndes Lagerfeuer und schrie nach Wasser. Ich senkte den Kopf und biss die Zähne zusammen. Ich musste stark bleiben. Ab heute.
,,Caitlyn, du weinst ja!"
Ja, toller Vorsatz! Von wegen, ich bleibe stark. Mr. Collins hörte auf seinen Kaffee zu pusten und blickte mich wehleidig an. Fehlte ja noch, dass ein Schuldirektor seine Schülerin umarmte! Das ginge gar nicht.
Er stellte seine Tasse vorsichtig ab, dabei zitterten seine Handgelenke.
,,Ich weiß..", krächzte ich zögernd.
Er nahme eine Packung Taschentücher aus seiner Hemdtasche und tupfte vorsichtig und tief atmend meine Tränen weg. Mein Kopf wurde heiß und rot, doch das lag ganz sicherlich nicht, dass ich ihn verknallt wäre oder so! Immerhin war Mr. Collins 63 und ich hielt es für tabu, was er da gerade tat.
Unbehaglich drehte ich mich weg und krallte mich mit voller Kraft an meinen Stuhl. Als müsste ich meine Psyche vor dem kompletten Zusammenfall zurückhalten.
Ich schrie laut los. Gröhlte wie ein Bär, kreischte wie auf dem Konzert meiner Lieblingsband, rief in Todesangst den Namen meiner Eltern. Ich ließ meinen Emotionen freien Lauf. Ich ließ den ganzen Schmerz entweichen, wie bei einem Luftballon. Erst langsam, dann ganz schnell.
Und ich schrie. Lauter, wie in der Schule. Krankenpfleger eilten herbei und blickten mir besorgt in die Augen. Doch ich sah alles nur verschwommen. Meine Augen bildeten Pfützen, wie geschmolzenes Eis. Mein schmerz verzerrtes Gesicht legte sich in Falten und vergrub sich in meiner Armbeuge. Ich biss kräftig in meinen Pullover rein um zu verstummen. Ich spürte sämtliche Blicke, die sich in mich rein bohrten. Stechend, schreiend, schleppend, schmerzhaft, stoßend.
Erst als ich den Schmerz spürte, der meinen Körper durchfloss, wuch ich auf und schluchzte gedämpft, aber laut weiter. Kein Geschrei und kein Gegröhle. Es war vorbei. Ich hatte es überlebt und ich lebte noch. Ja, verdammte Axt! Ich lebte! Neben mir saß immer noch Mr. Collins. Er sah mich erschrocken an, doch er konnte mich nun mal nicht in den Arm nehmen, mich trösten und mir 1000 Küsschen ins Haar hauchen wie Mum.
,,Entschuldigen Sie, sind Sie Caitlyn Brinkley?"
Eine warme, junge Frauenstimme melodisch wie der Klang einer Gitarre, ließ mich aufsehen.
Schlagartig hörte ich auf verkrampft in meine Armbeuge zu beißen und spuckte den muffigen Geschmack meines olivengrünes Pullovers auf den Krankenhausboden.
,,Ja, die bin ich. T-T-Tut mir leid.", stotterte ich kleinlaut und hielt der Frau meine Hand hin.
Sie kniete sich vor mich hin und fing an zu flüstern:
,,Magst du deine Eltern sehen und dich, nun wie soll ich sagen, verabschieden?"
Der Lichtschalter in meinem Kopf ging aus und ich war gefangen in der Dunkelheit. Schritt für Schritt konnte, nein musste ich realisieren, dass meine Eltern gestorben sind.
Doch wollte ich sehen, wie sie dort kalt, leichenblass und regungslos auf der kalten, harten Metalliege lagen mit geschlossenen Augen und einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen?
Waren sie überhaupt glücklich, da wo sie jetzt waren? Bei Herrn Gott im Himmel?
Doch ich glaube nicht, dass sie lachten. Ich glaube nicht, dass sie glücklich waren. Sie waren doch immer so lebensfrohe und strahlende Menschen, die das Thema Tod und Sterben nie ansprachen und lange leben wollten.
Doch da schauderte ich. Jeder Mensch war nur eine Fassade. Ich wusste nie, was in ihren Köpfen vorging. Ich wusste nie, ob es ihnen tatsächlich so gut ging. Vielleicht war es Suizid.
Plötzlich hörte ich jemanden stark an mir rütteln, dass mir beinahe die Augäpfel aus dem Kopf fielen.
Es war Mr. Collins.
,,Ich kann verstehen, wenn sie es nicht.."
,,Es wäre angemessen.", entgegnete die Ärztin streng.
Oh, sie hatte Recht. Ich wollte mich verabschieden, ich wollte vor ihnen toben, schreien, weinen, fluchen, wie früher als Kleinkind, wenn ich nicht mein Lieblingsessen bekam.
Meine Mundwinkel zuckten leicht nach oben und ich schwelgte in den Gedanken meiner Kindheit.
Die Ärztin im leicht bläulichen Kittel aus der Gerichtsmedizin blickte mir geschockt ins Gesicht, doch sie ignorierte meine blutroten, rissigen Lippen, die unbewusst ein Lächeln formten. Sie dachte bestimmt, ich wäre geistes krank oder so.
,,Muss man nicht zuerst die Verwandten fragen, ob sie dem zustimmen?"
,,Wir haben Ihre Großmutter Helene gefragt. Möchten Sie denn-?!"
Ich nickte abrupt und stand mit einem Ruck auf 2 Beinen. Meine Fäuste hatte ich geballt, die Trauer schluckte ich runter. Der Schock allein schon saß mir tief genug in den Knochen. Einfach ignorieren, einfach ignorieren.
,,Mr. Collins, Sie können ruhig gehen. Es geht mir okay.", sagte ich zu ihm und lächelte gezwungen.
,,Bist du wahnsinnig? Oh, entschuldige!"
Er hielt sich seinen Mund erschrocken zu - mit beiden Händen. Seine Kaffeetasse fiel erneut runter und brach mit einem ohrenbetäubenden Klirren in sich zusammen.
,,Kümmern Sie sich nicht darum. Die Kollegen wischen das auf.", raunte ihm die blondierte Ärztin zu, während sie mir mühsam mit einer Hand die weiße Tür aufhielt mit der milchigen Fensterscheibe und der Aufschrift: "Nur für Befugte und Personal"
,,Soll ich mitkommen?!", rief Mr.Colins schließlich und war schon auf dem Weg mit der Jacke in der linken Hand. Doch ich glitt schnell durch die schwere Metalltür hindurch, die sich daraufhin mit einem lauten Summen schloss.
Und da ging ich rein in die Obduktionshalle.
Blaue Kacheln klebten an der Wand und auf dem Boden. Alles war auf Hochglanz poliert, damit es natürlich frei von Bakterien und Krankheitserregern blieb.
Dieser komische Krankenhausgeruch - eine Mischung aus Chlor und Desinfektionsmitteln drang säuerlich in meine Nase.
Erneut drangen Tränen in meine Augen und ich drohte zu ersticken. Ich wusste nicht, ob dies von diesem ekelhaften Säuregehalt kam oder die Tatsache, dass ich hier alleine war ohne Familie oder Freunde. Noch keiner hatte nach mir gefragt. Meine Familie Brinkley war für die Tonne! Wie gut, dass ich sie nur an Weihnachten sah in der Kirche und mit ihnen Kirchengesang nachgröhlte.
,,Woran sind meine Eltern gestorben?"
Die Ärztin drehte sich plötzlich um und ich blickte in ihre warmen, blaue Augen - so schön dunkel blau wie eine wolkenlose Nacht am Horizont.
Und da tat sie etwas, was ich nie erwartet hätte. Sie drückte mich an sich, drückte fest an mir, als würde sie versuchen die zerfallenen Scherben meines Herzes zusammenzukehren - vergeblich.
,,Es tut mir so leid für dich.", flüsterte sie.
Sie siezte mich ja gar nicht mehr? Ich schluckte laut und versuchte mich Stück für Stück von ihr abzuwenden.
,,Ich saß in der Schule und dann.. Nachrichten.. Tot.. Garage..", rief ich und schnappte panisch nach Luft. Mein Mund war schon ganz salzig von meinen Tränen. Plötzlich bildete sich eine riesige Blase in meinem Mund, was bestimmt ein Gemisch aus Spucke und salzigen Tränen war.
,,Ich bin übrigens Dr. med. Belle Lucas, aber nenne mich ruhig Belle.", flüsterte sie beruhigend und reichte mir ein Taschentuch.
,,Wieso..meine Eltern?!", schrie ich und fiel erneut in mich zusammen. Belle schloss die nächste Metalltür vor sich und kniete wieder neben mich.
Sie presste mich erneut an ihren Bauch und es konnte unglaublich beruhigend sein, seinen eigenen Herzschlag leise pumpen zu hören.
,,Ich bin mir sicher, es war ein blöder, urplötzlicher Unfall. Unser Gerichtsmediziner Gregory Kyles kann dir sicherlich mehr sagen.", fügte sie schnell hinzu und lächelte mich unsicher an.
Ich strich mir eine meiner Locken aus dem Gesicht. Meine langen Haare fielen mir ständig ins Gesicht, so dass sie jetzt schon ziemlich feucht und verklebt waren.
Damit öffnete sich die nächste Metalltür. Belle hielt meine verschwitzte Hand fest und führte mich langsam zu einem großen Schreibtisch aus Metall, an dem ein großer, muskulöser Mann saß, der konzentriert seinen Bart kämmte und Daten aus dem Computer ablas.
Belle klopfte auf seinen Schreibtisch. Abrupt stand er auf und räusperte sich mit seiner unglaublich tiefen und lauten Stimme:
,,Ich bin Gregory Kyles. Du musst Caitlyn sein, oder?"
Er gab mir einen kräftigen Händedruck, bis sie sogar rot anlief und meine Fingerknöchel knackten.
Ich nickte schüchtern und schaute weg. Neben mir lagen 2 graue Säcke mit einem Reißverschluss auf einem hohen Metalltisch. Waren das etwa meine Eltern?
,,Mein Beileid.", flüsterte er und ich spürte eine warme Hand, die leicht auf meinem Rücken lag.
Ich biss mir nervös auf die Lippe und suchte nach Belle, doch die saß alleine am Schreibtisch und tippte etwas auf der Tastatur. Ihre Lippen formten Worte.
,,Sind d-d-da meine E-E-Eltern?"
Ich fing an am ganzen Körper zu zittern wie kahle Äste an einem kalten, windigen Wintertag voller Schnell.
Er blies lange und tief Luft aus der Nase hinaus.
,,Leider ja. Möchtest du es wirklich sehen?"
Doch plötzlich war ich mir gar nicht mehr so sicher. Denn ich begriff jetzt, dadrin lagen meine Eltern. Meine Eltern, die vor ihrem Kind gestorben sind. Weswegen wusste ich nicht. Niemand konnte oder wollte mir die Wahrheit sagen, aber wieso? War es wirklich Selbstmord? War ich ihnen zu anstrengend mit meinem pubertären Gezicke und Gehabe?
Erneut schossen zahlreiche Tränen in meine Augen, die meine Sicht veränderten. Das Bild, das ich vor mir hatte gedanklich, puzzelte sich immer weiter zusammen. Ich sah meine Eltern vor mir, wie sie da kalt und allein gelassen auf dem harten Asphalt vor unserer Garage lagen und verträumt oder mit geschlossenen Augen in die Ferne starrten - völlig neben der Spur.
Ich spürte ein dumpfes Stechen im Herzen, doch ich versuchte es gekonnt zu ignorieren.
Ich sah Mum vor mir, mit ihren smaragdgrünen Äuglein, ihrer Stupsnase und den Grübchen neben dem Mund vor mir. Ihre grünen Augen strahlten nicht mehr vor Lebensfreude und Glück. Sie waren stumpf, leer und glasig. Wie die Augen einer Puppe.
Ihre Haare lagen auch ganz bestimmt nicht in Form neben ihr. Sie waren bestimmt vom Haarspray verklebt und am Boden platt gedrückt worden. Auch sie verloren nach und nach ihren Glanz und ihre dunkelrote Farbe.
Nun sah ich auch Daddy neben mir. Oh Dad, wie oft ich dir schon sagen wollte, dass dein brauner Vollbart, mich an einen haarigen Bären erinnerte? Bestimmt war dieser jetzt auch zerzaust und die schwachen Locken nach unten gekrümmt, so wie dein Mund. Dein Mund zeigte bestimmt nicht deine Zahnreihe, wie du gelacht oder gelächelt hast, nein. Er war bestimmt ebenfalls nach unten gekrümmt, nachdem du deinen letzten Atemzug getätigt hattest.
Mum und Dad, der Moment vor eurem letzten Atemzug tat bestimmt weh. Ich wollte nie, dass ihr Schmerzen habt. Ich wollte nie, dass ihr leidet.
Doch sagt mir: woran habt ihr gelittet?
Wer hat euch ermordet?
Jemand anderes, ihr selber oder letzendlich ich?

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 05, 2015 ⏰

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