Die Türen öffneten sich wie Lider, die zu lange geschlossen gewesen waren, und für einen Moment blendete mich das Licht.
Dann der Schock: nicht mehr 10, nicht mehr 17 – 60 Spieler standen nun Schulter an Schulter im neuen Raum. Stimmen, Schritte, nervöses Lachen, das sofort wieder in der Luft zerbrach. Ich fühlte mich klein, wie eine Figur, die aus Versehen in eine fremde Bühne geraten war.
Riven stand wie immer etwas abseits, Kapuze tief im Nacken, Hände in den Taschen. Nova lehnte ein paar Schritte weiter an der Wand, ihre Tattoos glitzerten im Neon, als wollten sie die Spannung noch provozieren. Als sie mich sah, grinste sie. Nicht freundlich – interessiert.
Bevor jemand sprechen konnte, ertönte die Stimme.
Metallisch. Neutral. Grausam.
„Eure Erinnerungen erwarten euch. Nur wer weitergeht, kommt voran. Wer stehenbleibt, bleibt zurück."
Ein langer Flur entfaltete sich vor uns, so weiß, dass er fast brannte. Türen reihten sich links und rechts aneinander, jede mit einem anderen Farbton umrahmt: Blau, Gold, Rot, Türkis, Lila. Manche glühten sanft, andere pulsierten wie Herzschläge.
Der Boden vibrierte, als würde der Raum atmen. Dann öffnete sich die erste Tür von selbst. Ein Spieler – ein Junge mit zerzaustem Haar – stürzte beinahe hinein, als hätte er Angst, dass man sie ihm wegnimmt. Kaum war er durch, hörte man es: Lachen. Laut, hell, unfassbar echt. Es hallte über den Flur.
Die anderen reagierten wie Raubtiere, die Blut wittern: sie stürzten sich auf die Türen.
Jede, die sich öffnete, spie etwas anderes aus – Gelächter, Weinen, Schreie, Flüstern.
Manche Spieler brachen zusammen, andere klammerten sich an die Türrahmen, als wollten sie nicht mehr herauskommen.
Ich schluckte. Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich mich einer der Türen näherte. Sie war sanftblau, einladend.
Ich legte die Hand an den Griff – und trat hinein.
⸻
Leere.
Keine Farbe. Keine Geräusche.
Nur Weiß.
Ich stand in einem Raum, der so steril war, dass ich mich fragte, ob ich selbst überhaupt eine Kontur hatte. Kein Bild, kein Geräusch, kein Duft, keine Wärme.
Mein Hals wurde trocken.
Ich ging zur nächsten Tür.
Wieder: Leere.
Zur dritten.
Nichts.
Ich taumelte rückwärts in den Flur, das Licht schmerzte plötzlich in den Augen.
Mein Herz raste. Ich hörte es schlagen, laut, lauter – die Anzeige über meinem Kopf flackerte: BPM 92.
„Warum... warum ist da nichts?" Meine Stimme klang klein, wie von jemand anderem.
⸻
Der Flur wurde lauter.
Links schrie ein Mädchen vor Glück, weinte und rief immer wieder denselben Namen.
Ein Junge fiel auf die Knie, flehte, dass er bleiben wolle – seine Silhouette begann zu glühen, bis sein Körper von Licht verschluckt wurde. Nur noch Staub. Eliminiert.
Zwei Männer stritten sich um dieselbe Tür. Einer schubste, der andere schlug, und das Haus ließ sie gewähren. Blut auf dem weißen Boden.
Das Chaos wuchs, Stimmen prallten aneinander wie Wellen. Manche Spieler lachten hysterisch, andere schrien, als würde man ihnen die Seele herausreißen.
Nova ging an mir vorbei, als würde sie über einen Bürgersteig schlendern.
„Leer, hm?" Ihre Stimme war ein Zündholz.
Ich fuhr herum. „Was meinst du damit?"
Sie lächelte – nicht böse, aber wissend.
„Das erklärt einiges." Dann öffnete sie eine türkis leuchtende Tür und verschwand dahinter.
Ich starrte ihr hinterher, der Flur vibrierte unter meinen Füßen. Alles in mir schrie, noch eine Tür zu öffnen. Noch eine. Noch eine. Vielleicht da etwas zu sehen. Vielleicht irgendetwas.
Aber ich wusste es. Ich wusste, dass da nichts sein würde.
Mein Magen zog sich zusammen. Ich ballte die Fäuste, biss die Zähne zusammen. Meine Augen flackerten kurz violett – das Licht spiegelte sich auf dem weißen Boden. Ich rannte los.
Nicht zu einer Tür.
Nach vorn.
Der Flur wurde enger, länger, die Türen verschwammen. Stimmen klangen wie durch Wasser. Mein Herzschlag war mein eigener Taktgeber: Lauf. Lauf. Lauf.
Dann das gleißende Licht.
Das Ende.
⸻
Der Ausgang war blendend weiß, fast zu hell zum Ansehen. Spieler stürmten hindurch, manche schreiend, manche stumm.
Als ich durchging, spürte ich, wie etwas hinter mir abriss, als würde der Raum die nicht genommenen Erinnerungen zurückhalten.
Ich war unter den Ersten.
Meine Lunge brannte, meine Hände zitterten, aber ich war draußen.
Nur 53 Spieler schafften es in den nächsten Raum. Sieben fehlten. Sie waren entweder geblieben oder vom Licht verschluckt worden.
Ich blieb am Rand stehen, die Schultern gegen die Wand gepresst. Meine Knie fühlten sich an wie aus Glas.
„Ist alles ok?"
Rivens Stimme war ruhig, fast sanft. Ich zuckte zusammen – er war direkt neben mir.
„Nein." Meine Stimme brach. „Nichts ist ok. Ich... ich bin ein Freak ohne Erinnerungen. Wie kann das sein?"
Er beugte sich leicht zu mir. „Du hast wirklich keine einzige Erinnerung gesehen?"
Ich schüttelte den Kopf, Tränen sammelten sich in meinen Augen. „Nein."
Er schwieg lange. Sein Blick glitt nach unten, dann wieder zu mir. Ich erwartete ein kaltes Schulterzucken, einen Kommentar, irgendetwas, das mich noch kleiner machen würde.
Aber dann geschah etwas, das ich nicht erwartet hatte.
Er zog mich einfach an sich.
Seine Arme waren stark, fest, nicht sanft – aber echt. Erst war ich wie erstarrt, mein Körper wusste nicht, wie man reagiert. Dann ließ ich los. Ich klammerte mich an seinen Hoodie, drückte mein Gesicht gegen seine Brust. Er war fast zwei Köpfe größer, und es fühlte sich an, als könnte ich darin verschwinden.
„Es heißt," sagte er schließlich, „dass man bestimmte Erinnerungen verliert, wenn man dort etwas erlebt hat, das zu groß war. Trauma. So schützt sich das Gehirn."
„Mein ganzes Leben kann doch kein Trauma gewesen sein", flüsterte ich.
„Vielleicht war es nicht dein Leben," murmelte er, „sondern jemand anderes, der es so wollte."
Bevor ich etwas darauf sagen konnte, klatschte jemand in die Hände.
„Mein Leben wird zum Trauma, wenn ich das hier sehe."
Nova.
Sie stand ein paar Meter entfernt, schob sich eine Strähne aus dem Gesicht, grinste. „Wirklich, Leute? Nach dem Flur voller Tränen jetzt die Kuschelszene?"
Ich löste mich aus Rivens Griff, wischte mir mit dem Handrücken übers Gesicht.
„Hast du nichts Besseres zu tun?" fragte ich scharf.
„Doch." Nova ging an uns vorbei Richtung Essensausgabe. „Aber das hier war zu gut, um es nicht zu kommentieren."
Sie warf Riven einen letzten Blick zu, dann mir. „Freak oder nicht – leere Erinnerungen bedeuten nicht, dass du leer bist. Denk mal drüber nach."
Dann war sie weg.
Ich blieb stehen, mein Herzschlag immer noch zu schnell, mein Kopf zu voll.
Riven stand neben mir, die Hände wieder in den Taschen, als wäre nichts gewesen.
Aber der Abdruck seiner Umarmung blieb.
Wie ein geheimer Beweis, dass ich nicht ganz allein war.
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404: The Missing
RandomEin QR-Code. Ein Weg durch die Nacht. Ein Gebäude, das nicht existieren sollte. Hinter den flackernden Fenstern des Neonhauses wartet kein Zufall - sondern ein Spiel. Jede Etage ein Test, jeder Raum ein Spiegel, jede Begegnung ein Fehler im System. ...
