Kapitel 1 -Achterbahn der Gefühle

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«Fiona, du kommst noch zu spät!», schrie meine Mutter von unten zu mir herauf, ihr Gezeter wurde jedoch, meinen armen Ohren zu Liebe, durch die dicke Mauer und der geschlossenen Zimmertüre gedämpft und hatte somit nicht den gewünschten Effekt. Murrend drehte ich mich auf die andere Seite meines Doppelbettes, von der verhassten Türe weg.

«Nur noch zwei Minuten», bat ich mein Kissen leise, während ich mein Gesicht darin vergrub. Ich hatte nicht wirklich vor, heute noch aufzustehen. Denn mir stand ein Montag von der ganz klischeemäßig grauenhaften Seite bevor. Ich schloss die Augen, zog die Decke bis an mein Kinn und kuschelte mich genüsslich in die Laken. Meine Gedanken wanderten, fort von dieser grässlichen Realität in eine angenehme Ferne.

Ich hatte gerade noch von einem gigantischen Picknick am Strand in Florida geträumt, mit zwei ein Meter langen Truthahnsandwiches in den Händen, bis die erschreckende Realität mich wieder eingeholt hatte: Ich war nicht Zuhause, ich war nicht mehr im warmen Orlando. Wir hatten keine angenehme dreiunddreißig Grad, nein, der Regen peitschte fast durchgehend gegen mein Dachfenster, trommelte seinen eigenen, quälenden Rhythmus, der mich vom Schlafen abhielt.

Es war Ironie des Schicksals, dass genau in diesem Moment ein Satz kaltes Wasser auf mein schlafendes Haupt traf. Noch bevor mein Gehirn überhaupt realisieren konnte, was mit meinem Körper geschah, strampelte ich meine Beine von der Decke frei. Mit einem hysterischen Schrei sprang ich aus dem Bett, dass bis eben noch gemütlich warm gewesen war. Fuchsteufelswild drehte ich mich zu dem bekannten Übeltäter um, um ihn zur Rede zu stellen.

«Was zum Teufel sollte das!», schrie ich meine kleine Schwester wütend an. Ich würde meine Laken neu beziehen müssen, schoss es mir durch den Kopf.

Sie schenkte mir bloß einen missbilligendem Blick. «Mum wollte, dass ich dich wecke. Das habe ich getan.» Sie drehte sich auf den Absatz um und verschwand. Der gelbe Plastikputzeimer, den ich als ihr Folterinstrument identifizierte, baumelte fröhlich an ihrer rechten Hand.

Ich war viel zu schockiert, um ihr hinterher zu rennen, doch Rache war bekanntlich süß. «Du solltest nächste Nacht mit einem Auge offen schlafen!», bellte ich ihr warnend hinterher. Nun, da ich von oben bis unten klatschnass war, hatte sich das mit der morgendlichen Dusche ebenfalls erübrigt. Ich zerrte mir das weiße, nun durchsichtige Schlafoberteil über den Kopf und schlüpfte aus der karierten Schlafboxershorts. Ich ließ beides achtlos auf dem Parkett liegen. Mit nur noch an der Haut klebenden Unterwäsche bekleidet ging ich auf das einzige Badezimmer des Hauses zu.

«Du hast noch zehn Minuten, Fiona!», informierte mich meine Mutter, erneut mit einem kopfschmerzveursachenden Brüllen, das durch ihre helle Stimme seltsam verzerrt klang.
«Wenn du noch etwas frühstücken willst, muss du das jetzt tun!»

Die kalte Pizza vom Wochenende? Nein, danke. Im Flur war es überraschend kalt. Der Boden fühlte sich an den nackten Füßen wie Eisschollen an. Gänsehaut überzog meine Beine. In dem Versuch, mich zu wärmen, umschlang ich meinem Oberkörper mit den Armen. In der Erwartung, die weiße Tür des Badezimmers mit Leichtigkeit öffnen zu können, drückte ich die silberne Klinke herunter. Die Tür bewegte sich trotz heftigem Drückens keinen Zentimeter. Wie ein wildgewordenes Biest fing ich an, abwechselnd an der Türklinke zu rütteln und auf das angestrichene Holz einzuhämmern, um mich bemerkbar zu machen.

«Nathalie!» Erzürnt über die hoffnungslose Dreistigkeit meines jüngeren Geschwisterkindes erhob auch ich die Stimme. Sie wusste ganz genau, was sie tat. Ich war mir sicher, eben registriert zu haben, dass ihre Haare bereits gelockt und ihr Gesicht schon mit Schminke zugekleistert war. Sie war mit ihrer stundenlangen Morgenroutine längst fertig. Sie machte das nur, um mich zu schikanieren. «Mach sofort die Tür auf!», schrie ich.
Sollte sie nicht ein bisschen mehr Respekt vor mir haben? Schließlich war ich drei Jahre älter als sie, obwohl ich mich in diesem Augenblick zugegebenermaßen eher wie eine Gleichaltrige benahm.

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