PROLOG

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Prolog

Seit Tagen war es dunkel und regnerisch in der schwedischen Kleinstadt. Der Wind rüttelte an den Fensterläden der roten Holzhäuser, beinahe so, als wolle er alles in Trümmer werfen. Eldís saß auf dem Fensterbrett, das Kinn auf die Knie gestützt und blickte gedankenverloren in die Finsternis. Seit Tagen sah es da draußen gleich aus. Sie fühlte sich schwer, als würde die Dunkelheit von draußen in sie hinein kriechen. Der Winter war lang, kalt und erdrückend. Dunkle Wolken hingen schwer über den Dächern, und das einzige Licht, das ihr Zimmer in ein trübes Grau tauchte, kam von ihrer Leselampe neben dem Regal mit dem Plattenspieler. In ihrem Zimmer war es still, nur das leise Ticken der Wanduhr war ab und an zu hören. Eldís Mutter arbeitete  wieder spät. Aber auch wenn sie da war, schien sie weit weg.

Ihre Finger strichen über die Narben an ihrem Handgelenk, eine Erinnerung an die Nächte und Momente, in denen der Schmerz zu viel geworden war. Eldís zog den Ärmel ihres schwarzen Pullovers darüber, als könne sie damit die Narben und all die damit verbundenen Erinnerungen verschwinden lasse.

  Ihre isländische Mutter, die mit den langen, trostlosen Wintern aufgewachsen war, wirkte wie immer beschäftigt und kühl, vielleicht wollte Ylvia auch für Eldís stark bleiben. Sie schien keine Probleme mit der Dunkelheit zu haben, nie. Ihre Mutter ging täglich ihrem Job als Krankenschwester nach, arbeitete oft bis spät in die Nacht und kehrte dann müde, aber unerschütterlich, nach Hause zurück. Sie schien den Schmerz, der sich in Eldís' Herz festgesetzt hatte, nicht zu verstehen. Wenn sie dann ins Zimmer kam, sagte sie oft nur: „Es wird schon wieder, du musst nur positiv denken."

Manchmal fragte sich Eldís, ob ihre Mutter wirklich so gut mit dem Tod ihres Vaters zu Recht kam, so kam es ihr zumindest vor, wenn Ylvia wieder mal kein Verständnis für Eldís Benehmen hatte. Wenn ihre Mutter ihr aus diesem Loch heraushelfen wollte, hatte sie einen völlig falschen Ansatz. Für Eldís war es wie ein Schlag ins Gesicht, wenn ihre Mutter Ylvia ihr sagte, sie solle sich "zusammenreißen"oder einfach mal "positiv denken". So einfach war es nun mal nicht.

Sie fühlte sich von ihrer Mutter verlassen – sie hatte keine Zeit für ihre Trauer, keine Zeit für ihre Gefühle. Ihre Mutter war immer so beschäftigt, dass sie Eldís' stetige Traurigkeit gar nicht richtig bemerkte. Sie konnte nicht verstehen, was ihre Tochter durchmachte, wusste nicht, was der Tod ihres Vaters vor einem Jahr in ihr verändert hatte.

Folke war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, ebenfalls in einem Winter wie diesem. Bei dem Gedanken daran spürte Eldís, wie sich eine unsichtbare Schlinge um ihren Hals legte – immer fester, bis sie kaum noch atmen konnte. Der Unfall hatte die Familie erschüttert. Ihr Vater hatte viel gearbeitet und dabei den Kontakt zu Eldís und ihrer Mutter fast völlig verloren. Doch Eldís hatte ihn nie  aufgehört zu lieben. Schließlich war es ihr Vater. Eldís hatte sich eher wie Dekoration in seinem Leben gefühlt. Als er sich zunehmen in die Arbeit gestürzt hatte, entfremdeten sie sich mehr und mehr.

Es war merkwürdig: In den Tagen nach dem Unfall, als ihre Mutter völlig erschöpft in der Küche saß und schweigend Kaffee trank, fühlte Eldís sich mehr allein als je zuvor. Es war, als wäre ihre Mutter mit ihrem Schmerz beschäftigt, und Eldís  nicht mehr als eine Nebenfigur in ihrem eigenen Leben. Vielleicht hatte ihre Mutter auch nie wirklich Zeit gehabt, sich um ihre Tochter zu kümmern, oder vielleicht war es Eldís, die immer weiter von ihr weggerückt war.

Sie stützte ihre Hände auf das Fensterbrett, als könnte es sie halten. Draußen sah es noch ungemütlicher aus als drinnen. Ihr Blick fiel auf das Nachbarhaus, das seit dem Wegzug der Familie leer stand. Früher hatte sie oft mit den Nachbarskindern gespielt, doch das war längst vorbei. Die letzten Monate hatte sie sich weitestgehend von der Außenwelt distanziert. Es war, als habe sie mit dem Tod ihres Vaters nicht nur ihn verloren, sondern auch ihre Verbindung zu der Welt um sich herum. Und nach und nach verlor Eldís auch sich selbst, da war sie sich sicher.

Wie immer ging ihr viel durch den Kopf – ein Schneesturm aus Gedanken. Aber gleichzeitig fühlte sie sich leer. Zu leer und doch zu voll, als wäre beides miteinander vermischt. Wenn das überhaupt möglich war.Eldís schüttelte den Kopf. Ihre Gedanken ergaben keinen Sinn. Aber was ergab den überhaupt noch einen Sinn?

„Zum Glück dauern die Ferien noch eine Woche", dachte sie. Doch die Schwere, die sie an ihr Bett fesselte, war wie immer präsent. Wer hatte bei dieser grauen Suppe draußen schon Lust, das Haus zu verlassen?

Eldís konnte nicht, es war zu schwer, zu anstrengend. Immer wieder überkam sie ein Gefühl der Schwäche. . Alles kostete so viel Energie und schien doch so ergebnislos. Und sie wusste nicht, wie sie es schaffen sollte, bald wieder jeden Morgen ohne jegliche Motivation aus dem Bett zu steigen und in die schwarz-weiße, eiskalte Welt hinauszugehen – voll von Menschen, die sie genauso hassten, wie sie sich selbst hasste. Bei dem Gedanken raste ihr Herz.

Aber es gab eine Lösung.

Schon lange schlummerten diese düsteren Gedanken tief in ihrem Kopf. Manchmal hörte sie eine Stimme, die ihr zuflüsterte, es einfach zu tun – all den Schmerz und die Gleichgültigkeit hinter sich zu lassen. Auch die Stimmen in ihrem Kopf waren in letzter Zeit immer prägender geworden und Eldís fürchtete bald völlig verrückt zu werden. Doch stark genug, sich wirklich umzubringen, war sie nie gewesen. Und immer, wenn sie darüber nachdachte, bereute sie es, sich nicht schon längst davon befreit zu haben. Wie viel Schmerz sie sich damit erspart hätte, wie viel unnötige Kraft sie sich hätte schenken können. Aber wie würde ihre Mutter reagieren, wenn sie nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Tochter verlöre? Aber hatte sie ihre Tochter nicht schon längst verloren? An die Dunkelheit, die Dunkelheit, die sie jeden Tag mehr aufzusaugen schien, sie veränderten, so sehr, dass Eldís sich nicht mehr selbst erkannte.

Eldís' Blick wanderte durch ihr Zimmer, das sie in den letzten Wochen kaum verlassen hatte. Es war kahl eingerichtet, und manchmal hatte sie das Gefühl, dass die Wände immer näher kamen und sie zerquetschen würden. Sie fühlte sich wie eine mickrige, unwichtige Fliege. Auf ihrem Schreibtisch lagen die Schulaufgaben, die sie über die Ferien aufbekommen hatte – Aufgaben, die sie nicht einmal angerührt hatte, weil sie zu kraftlos war. Hinter den Blättern stand ein eingerahmtes Foto, dessen Oberfläche mit einer Staubschicht überzogen war. Auf der Abbildung waren sie, ihre Mutter Ylvia und ihre Cousine Frida zu sehen. Es war schon älter, und alle lächelten glücklich. Im Hintergrund war ein Segelschiff zu sehen. Eldís betrachtete sich selbst und fragte sich, wann sie von diesem strahlenden, blonden Mädchen zu der düsteren, langweiligen Jugendlichen geworden war. Zu jemandem, dessen Leben keinen Sinn mehr hatte. Dabei war sie mal so lebensfroh gewesen.

„Jemals wieder so glücklich zu sein wie damals auf dem Segeltrip...", dachte sie. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich wochenlang auf das Wochenende gefreut hatte. Damals war ihr noch nicht alles egal gewesen. Heute war das Leben nur noch erdrückend und voller Probleme, die sie zwar belasteten, aber ihr irgendwie egal waren. Erschreckend egal.

„Das macht keinen Sinn", flüsterte sie leise vor sich hin.

„Du machst keinen Sinn."-Da war sie wieder, die Stimme in ihrem Kopf.

„Stirb endlich." Eldís zuckte zusammen. Zwar hatte sie sich schon an die Kommentare gewöhnt, doch gruselig war es noch immer. Manchmal dachte sie sogar jemand stände war hier, direkt hinter ihr, doch dann waren es doch wieder nur die nervigen Stimmen, die ihren Kopf regierten und sie durcheinander machten.

„Tu es doch, oder traust du dich nicht?"

Hallte es in ihrem Kopf wieder. Die verschieden hohen Stimmen schienen regelrecht miteinander zu streiten. Was geschah mit ihr? Wurde sie endgültig verrückt? Eldís sank zu Boden und hielt sich ihren schmerzenden Kopf, der von den vielen Stimmen beinahe zu explodieren drohte. Alle kreischten und flüsterten durcheinander. Ein einziges Wirrwarr.

„Hört auf! Geht weg!" Schluchzte sie verzweifelt. Die Stimmen in ihrem Kopf waren immer da, beurteilten alles, was sie tat, und machten ihr ohnehin schon verhasstes Leben noch unerträglicher.

He saved meWhere stories live. Discover now