Red Shadow
Prolog
☆ Abu Dhabi | 26. November 2023 ☆
Die Luft vibrierte vor Spannung, ein scharfes Gemisch aus verbranntem Gummi, Benzin und heißem Asphalt schwebte wie ein unsichtbarer Schleier über dem Yas Marina Circuit. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen über die Tribünen, tauchte die Rennstrecke in ein orangefarbenes Licht, das an die Glut einer ausgebrannten Flamme erinnerte.
Das Dröhnen der Motoren füllte die Luft, als die Startampeln erloschen und die Boliden sich mit einem ohrenbetäubenden Crescendo in Bewegung setzten.
Es war das letzte Rennen einer dreiundzwanzig Grand Prix' langen Saison und selbst, wenn die Entscheidung in der Weltmeisterschaft in diesem Jahr bereits gefallen war, rief das Finale immer eine gewisse Dramatik hervor, die sich nicht leugnen ließ.
Andrea Stella saß auf seinem Platz, die Kopfhörer fest an den Ohren, der Blick auf die Monitore vor ihm geheftet. Der Hauptbildschirm zeigte die Onboard-Perspektive von Lando Norris, der sich dicht hinter dem Ferrari von Charles Leclerc hielt. Die kleineren Bildschirme flimmerten mit Daten: Sektorenzeiten, Reifenverschleiß, Temperaturkurven. Keine Sekunde, keine Nuance entging Andrea. Sein Verstand arbeitete wie ein Computer – strategisch, ruhig, mit unfehlbarem Fokus.
„Boxenstopps für Medium-Starter beginnen", kam die Stimme von Will Joseph, Landos Renningenieur, über den Funk. Sie klang sachlich, fast emotionslos, obwohl die Spannung überdeutlich zu spüren war. „Wir bleiben noch draußen. Die Reifen sehen gut aus."
Andrea nickte kaum merklich. „Bestätigen wir", sagte er mit seiner charakteristischen Ruhe. „Tom, Status bei Oscar?"
„Oscar meldet, dass die Balance passt", antwortete Tom Stallard, der für den zweiten McLaren zuständig war. „Reifenverschleiß minimal, aber wir sollten die Lücke zu Russell besser kontrollieren."
„Verstanden", erwiderte Andrea. „Er soll den Abstand bei zwei Sekunden halten."
Am Rand seiner Wahrnehmung spürte er die präsente Gestalt von Zak Brown, dem CEO des Teams, der in seiner typisch entspannten Haltung die Arme vor der Brust verschränkte. Zak schien immer einen lockeren Spruch auf den Lippen zu haben, selbst in Momenten wie diesem.
„Andrea", begann Zak und lehnte sich über die Stuhllehne, „du wirkst angespannt. Keine Sorge, Aston hat genau eine Waffe: Alonso. Stroll ist irgendwo da hinten in der Wüste."
Ein leichtes Zucken um Andreas Mundwinkel war das einzige Zeichen, dass er Zak überhaupt wahrgenommen hatte. Doch die Bemerkung war treffend, zumindest in Zaks Augen, der noch eine Handbewegung machte, mit der er auf irgendeinen unbestimmten Ort weit weg deutete.
Runde um Runde verstrich und die Sonne versank endgültig hinter den Horizont. Die Strecke wurde von grellen Flutlichtern erhellt, die jede Bewegung, jeden Funken und jede Unebenheit auf dem Asphalt sichtbar machten. Es war bald die Hälfte des Rennens um, als die Spannung bei McLaren ihren ersten Höhepunkt erreichte.
„Box, Box, Lando jetzt reinholen!" Andreas Stimme war ruhig, aber bestimmt. Anweisungen mussten immer deutlich und präzise sein, da schenkte man sich die netten Bitten und man diskutierte darüber auch nicht in einem Sport, in dem nicht nur Sekunden, sondern Millisekunden zählten.
Der Boxenstopp verlief zunächst planmäßig, doch ein Problem mit dem rechten Hinterrad kostete wertvolle Sekunden. Andrea biss die Zähne zusammen, sein Blick bohrte sich in die Monitore. Der Zeitverlust war unübersehbar. Russell schaffte es an ihnen vorbei. Als Lando endlich wieder auf die Strecke fuhr, hatte er zwei Positionen verloren. Andrea schloss kurz die Augen und holte tief Luft. Ärger war nicht seine Art, aber dieser Rückschlag war unnötig.
Währenddessen fiel sein Blick unwillkürlich auf die Aston-Martin-Box. Die Kameras zeigten Alonso, der mit Lando um die Position kämpfte. Andrea registrierte die Bewegung am anderen Kommandostand.
Mike Krack – Teamchef ihrer momentan härtesten Konkurrenz auf der Strecke – hatte sich leicht nach vorne gebeugt, ein Ausdruck von Fokus und Anspannung auf seinem Gesicht. Andrea wusste, was dieser Ausdruck bedeutete; er hatte ihn oft genug gesehen, vor vielen Jahren.
Ihre Blicke trafen sich.
Es war nur ein Augenblick, ein Bruchteil einer Sekunde, aber die Zeit selbst schien ins Stolpern zu geraten. Die Erinnerungen, die Andrea so sorgfältig in die tiefsten Winkel seines Geistes verbannt hatte, brachen wie ungebetene Gäste in seinen Kopf ein.
Mike hielt den Blick, seine Augen dunkel und undurchschaubar. Andrea spürte, wie ihm ein ungewollter Stich durch die Brust ging. Es war ein Fehler, er wusste es, aber für einen Moment ließ er zu, dass dieser Fehler existierte.
Andrea schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen. Keine Zeit für Ablenkung. Noch nicht.
Doch seine Gedanken wanderten weiter, zurück zu diesem flüchtigen Moment, der ihn einfach nicht loslassen wollte – oder zumindest die Erinnerung nicht, die dadurch ausgelöst wurde. Dass es da eine Geschichte gegeben hatte, die nie einen Abschluss gefunden hatte. Nur sie wussten, dass hier mehr passiert war, als bloß einen Platz an den rivalisierenden Kommandoständen zu besetzen.
Das Rennen ging weiter, die Strategien liefen wie geplant, aber Andrea wusste, dass er in diesem einen Augenblick mehr verloren hatte, als nur ein paar Sekunden in der Box.
Der Schatten der Vergangenheit war zurückgekehrt, und er war dunkelrot wie die Abenddämmerung über Abu Dhabi.
Das Rennen nahm weiter an Fahrt auf. Die Strategien der Teams entfalteten sich, jeder Boxenstopp war ein Balanceakt zwischen Zeitgewinn und Risiko.
Yuki Tsunoda hatte kurzzeitig geführt, bevor auch er an die Box musste. Die Mercedes fuhren konstant, Ferrari schien sich auf Platz zwei zu behaupten. Und in den letzten Runden wurde es dramatisch.
„Kontakt zwischen Norris und Pérez in Kurve acht!", rief Will über den Funk. „Pérez hat uns getroffen!"
Andrea reagierte sofort, die Augen blitzschnell auf die relevanten Daten geheftet. „Schäden am Auto?", fragte er ruhig, obwohl sein Puls beschleunigte.
„Keine sichtbaren Schäden. Lando sagt, das Auto fühlt sich okay an", antwortete Will.
Andrea atmete tief durch. „Sag ihm, er soll die Pace halten. Pérez wird eine Strafe bekommen."
Zak, der die Szene verfolgt hatte, schüttelte grinsend den Kopf. „Red Bull muss seine Jungs echt unter Kontrolle kriegen. Sieht aus, als wären wir für den vierten Platz sicher."
Doch Andrea entspannte sich nicht. Sein Verstand blieb scharf, seine Gedanken glitten durch mögliche Szenarien. Als das Rennen endete – mit Verstappen als Sieger, Leclerc auf Platz zwei und Russell auf Platz drei – war das Gefühl der Erleichterung kurz.
Zu knapp war das Rennen gewesen, zu viel stand immer auf dem Spiel.
Als der Kommandostand sich leerte, blieb Andrea noch einen Moment sitzen. Die letzten Daten scrollten über die Bildschirme, die Stimmen der Ingenieure verhallten. Er nahm die Kopfhörer ab, stand auf und sah sich unwillkürlich noch einmal um. Mike, der ebenfalls aufstand, hatte den Blick auf Andrea gerichtet.
Die unausgesprochene Frage, die wie ein schwerer Nebel zwischen ihnen hing, wartete darauf, ob sie je den Mut fänden, ihr entgegenzutreten.
⊱☆⊰
Das Hotel lag nur wenige Minuten vom Yas Marina Circuit entfernt, ein Monument aus Glas und Stahl, das im Licht der Straßenlaternen schimmerte.
Andrea betrat die Lobby, in der ein gedämpftes Summen herrschte. Stimmen der Gäste, das Klirren von Gläsern aus der angrenzenden Bar, das leise Surren des Aufzugs – all das verschmolz zu einem Hintergrundrauschen, das ihn wie eine Blase umgab.
Er hatte die Schlüsselkarte für sein Zimmer in der Hand, die Finger fest darum geschlossen, als wollte er sich selbst daran erinnern, dass dies sein Ziel war: Sein Zimmer, Stille, ein paar Stunden Schlaf. Doch dann, kurz bevor er den Aufzug erreichte, hielt er inne.
Mike stand einige Meter entfernt. Seine Körperhaltung war entspannt, fast schon lässig, doch die Intensität seiner Gesten verriet, dass das Gespräch mit einem seiner Ingenieure alles andere als parenthetisch war. Andrea blieb stehen, halb hinter einer der modern gestalteten Säulen verborgen, und beobachtete sie beiläufig.
Mikes Stimme war zu leise, um sie zu verstehen, aber sein Gesichtsausdruck war vertraut – dieser konzentrierte Fokus, den Andrea so gut kannte. Er spürte einen Stich, eine Mischung aus Sehnsucht und etwas, das er nicht benennen konnte, oder nicht wollte. Es war keine Abneigung, kein Groll, aber dennoch lag eine Schwere zwischen ihnen, die er sich selbst nie hatte erklären wollen.
Andrea schüttelte leicht den Kopf und straffte die Schultern. Es war spät, sicherlich zu spät für eine nächtliche Konfrontation. Obwohl „Konfrontation" das falsche Wort war, es gab keinen Streit zwischen ihnen. Nie. Es war etwas anderes, das immer in der Luft gehangen hatte, unausgesprochen und gleichzeitig unausweichlich. Eine alte Geschichte, ein Kapitel, das niemals zu Ende geschrieben wurde.
Er wandte sich ab, drückte auf den Knopf des Aufzugs und wartete. Doch selbst als sich die Türen vor ihm öffneten und er eintrat, blieb sein Blick unwillkürlich an Mike hängen, der sich gerade zu verabschieden schien. Noch könnte er zu ihm gehen und rausfinden, was passieren würde, wenn sie miteinander redeten, doch ehe er diesen Entschluss fassen konnte, schlossen sich die Türen.
Das Zimmer war kühl und in sanftes Licht getaucht, als Andrea eintrat.
Er ließ die Schlüsselkarte auf den Tisch fallen und warf die Tasche achtlos über einen der Stühle. Das Bett war ordentlich gemacht, die Bettdecke wie eine Einladung endlich den stressigen Tag hinter sich zu lassen, doch er setzte sich nicht hin.
Stattdessen ging er ans Fenster und blickte hinaus auf die nächtliche Skyline von Abu Dhabi. Die hell erleuchtete Rennstrecke war noch immer zu sehen, ein pulsierender Leuchtturm in der Dunkelheit.
Andrea stützte die Hände gegen das Glas und schloss kurz die Augen.
Zweiundzwanzig Jahre.
So lange war es her. Und doch fühlte sich dieser Abend so an, als hätte die Zeit keinen Unterschied gemacht.
Er sah Mike vor sich, wie er ihn zum ersten Mal getroffen hatte. Das Lächeln, der lockere Humor, die Kunst, wie er in einer Welt voller Konkurrenz immer einen Schritt vorauszudenken schien. Sie waren damals noch am Anfang ihrer Karriere gewesen, etwas idealistisch und vielleicht ein wenig naiv. Doch etwas hatte sie vom ersten Moment an verbunden. Solange, bis das Leben sie in verschiedene Richtungen gezogen hatte – beruflich, geografisch...
Andrea ließ sich aufs Bett sinken und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sein Kopf war schwer von Gedanken, die er über Jahre hinweg verdrängt hatte, während er sich jeden Tag nur noch auf seinen Job konzentriert hatte.
Was hätte er sagen sollen, wenn er Mike angesprochen hätte?
Dass er sich immer noch fragte, warum sie damals aufgehört hatte, miteinander zu reden, ohne jemals einen Grund dafür zu finden? Hätte er sich stumpfsinnig nach seinem Befinden erkundigen sollen? Einfach da weitermachen, wo sie irgendwann einmal aufgehört hatten?
Er lehnte sich zurück, den Blick an die Zimmerdecke gerichtet. Die Antworten lagen genauso fern wie die Sterne über der Wüste. Doch die Fragen waren so nah wie der rote Schatten der Vergangenheit, der heute Nacht wieder aufgetaucht war.
Andrea schloss die Augen.
‚Morgen', sagte er sich in Gedanken. ‚Vielleicht denke ich morgen darüber nach.'
Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass die Vergangenheit nicht warten würde.
