»Siehst du es nicht?«
Auf einmal zog sie scharf die Luft ein.
»Clara!«, stieß sie erschrocken aus, woraufhin ich nur nickte. »Was ein Wunder, dass du sie hier nochmal triffst, nachdem sie damals doch so tragisch ums Leben kam. Es tut mir leid, dass du daran erinnert wurdest.«
Ich schüttelte nur den Kopf.
»Nein, Ally, ich glaube nicht mehr, dass sie gestorben ist. Sie hat mich auch erkannt! Das habe ich sofort gemerkt, als ihr ihre Gesichtszüge entgleisten, als sie unsere Gesichter erblickte.«
»Stimmt. Jetzt wo du es sagst, sie war so seltsam. So verlegen«, gab Ally mir recht.
»Aber wieso hat sie sich damals dazu entschieden bei dem Unglück auch zu „sterben"?«

Ich richtete ihren Kopf zum Brautpaar aus, welches mittlerweile am ganz anderen Ende des Raumes stand. Trotzdem konnte man genau sehen, was ich meinte.

»Sie ist seinetwegen hier.«
Ich zeigte auf Parker.
Auf einmal jauchzte sie noch viel geschockter auf und versuchte bei mir Halt zu finden, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.

»James!«, stieß sie geschockt aus. »Obwohl ich sein Gesicht seit Jahren kenne, ja sogar nachts von ihm träumte, habe ich Parkers Gesicht nicht in dem von James gesehen! Oh mein Gott!«
»Ich hab ihn auf den ersten Blick auch nicht erkannt, aber seine Körpersprache war so eindeutig! Ally, Clara war unsterblich, James war es aber nicht!«
»Sie hat lieber den leichten Weg genommen und ihren Tod auf der Titanic als Ausweg benutzt, um James in seinem nächsten Leben aufspüren zu können. Sie liebt ihn und sucht ihn immer in seinem nächsten Leben«, schlussfolgerte sie genau richtig. »Sie liebt ihn genauso wie ...« Sie stockte und sah mich wehmütig an.
»Ja, Ally, so wie ich dich ...«
»Die arme und jetzt heiratet er eine andere .«
»Glaub mir, Ally, sie würde ihn wohl lieber selber heiraten. Aber du hast es selbst gesagt! Parker liebt Judy schon seit Jahren und keiner konnte das ändern. Sie sieht ihn lieber mit einer anderen glücklich und liebt ihn aus der Ferne, als gar nicht an seinem Leben teilhaben zu können.«
Ally sah mich mit Tränen in den Augen an.
»Musstet du das auch schon? Ich meine, mich aus der Ferne lieben?«
»Ja, unzählige Male, Ally. Keines war aber so schlimm wie das erste Mal, als du dich dazu entschieden hast, dich von mir zu lösen, um nicht weiterhin an unserer Liebe festhalten zu müssen und endlich sterben kannst ...«
»Glaubst du, dass es bei den beiden auch so gewesen ist?«
Ich nickte entschlossen.
»Ganz bestimmt, Ally. Sonst würde sie nicht noch immer nicht los lassen können.«

Es brach mir immer mal wieder das Herz, wenn ich jemanden wiedererkannte, der mir mal nahe stand. An jenem Tag, wo ich aber Olive und Parker ins Gesicht sehen musste, brach nicht nur mein Herz, es zerschmetterte förmlich mit einem lauten Knall und fiel in vielen tausenden Scherben in sich zusammen.
Die Liebesgeschichte zwischen James und Clara war ebenso dramatisch wie die zwischen Celia und Archibald und wenn ich die beiden so sah, Parker glücklich mit seiner Judy und Olive ganz alleine, wurde mir ganz anders. Mich und Ally zusammen hier zu sehen, muss ihr zusätzlich nochmal einen Stich verpasst haben.

Ich musste mit ihr sprechen. Da war ich mir sicher.
Ich wartete die Zeit nach dem gemeinsamen Mittagessen ab und, darauf bin ich nicht stolz, lauerte ihr anschließend auf.
Sie streifte gerade über das Grundstück und war drauf und dran ihren Weg zu den Stallungen zu machen, als ich sie abfing.

»Olive«, rief ich ihr nach und versuchte sie mit schnellem Schritt zu erreichen.
»Oder sollte ich besser Clara sagen?«, fragte ich gekonnt gewagt und überrumpelte sie damit sehr.
»Psst. Nicht hier.« Sie legte mir einen Finger auf die Lippen und schaute sich hektisch um. Als die Luft rein war, deutete sie mir, ihr zu folgen.

Wir verließen schnell den gepflasterten Bereich und stapften einen kleinen Pfad entlang, bis wir nicht mehr in Sichtweite des Hauses waren.
Ein bisschen fühlte ich mich so wie mit Celia damals und, das merkte ich an ihrem traurigen Ausdruck, sie musste ebenfalls an die schönen Momente mit James denken.

Sie führte mich einen kleinen Hügel hinauf, von wo wir auf die weite Natur schauen konnten. Wir setzten uns zusammen unter einen großen alten Baum, der, wie ich annahm, im heißen Sommer sonst den Pferden und Rindern Schatten spendete, die um uns herum am Fuße des Hügels grasten.
Obwohl wir nicht umgeben von Bäumen und Büschen waren, fühlte ich mich dennoch sicher und ungesehen an diesem Ort.

»Hier wird uns sicher erstmal niemand finden«, sagte sie, während sie ihr rot kariertes Hemd ein bisschen enger um sich rum schlang, da eine kalte herbstliche Brise die Luft deutlich abgekühlt hatte.

»Es ist schön dich zu sehen«, versuchte ich die angespannte Stimmung erst einmal zu lockern.
»Dich auch, Archi..., Äh ich meine natürlich Charlie.«
»Ist schon okay«, winkte ich ab. »Hast du Parker von der Wahrheit des Ursprungs erzählt?«, tastete ich mich so vorsichtig heran, wie es sonst Ally tat, wenn sie über die Vergangenheit sprechen wollte.

»Nein.« Träge ließ sie den Kopf hängen. »Ich habe Jahrzehnte gebraucht, um ihn aufzuspüren und wie du sicherlich schon weißt, ist er seit der Schulzeit glücklich mit Judy. Ich bin einfach diesmal zu spät dran und hatte keine Chance, Charlie.«
»Das tut mir leid. Ally hat mir schon erzählt, dass Parker schon seit der Schulzeit mit Judy zusammen ist und auch sie deshalb leider keine Chance bei ihm hatte.«
Sie schmunzelte traurig. »Wie das Schicksal so spielt. Einst waren sie Geschwister, in diesem Leben wurde er von ihr verehrt und überleg mal, wenn er ihre Liebe erwidert hätte. Vielleicht hätten wir gemeinsam die beiden irgendwie auseinander bringen können und er würde mich morgen heiraten und nicht sie
»Sag das nicht, Olive. Er ist glücklich.«
»Ich weiß und Judy ist wirklich, wirklich toll. Ich kann ihn aber einfach nicht loslassen.« Sie seufzte schwer. »Ich habe einfach nie aufgehört ihn zu lieben.«
»Ich habe auch nie aufgehört mein Mädchen zu lieben. Ich kenne Ally erst seit zwei Wochen und dennoch fühle ich mich so viel lebendiger als all die Jahre als ich sie nicht fand. 1968 habe ich sie das letzte Mal gehabt, Olive. Seither bin ich irgendwie planlos im Leben gewesen.«

Konzentriert rupfte Olive das Gras vor ihr raus und ließ es im Wind wehen. Ein paar Halmen wehten ihr in ihre großen Cowboystiefel und ein paar weitere auf ihre weite Jeans.

»Hast du Ally von der Wahrheit erzählt?«
Ich nickte. »Ja, ich musste. Sonst hätte ich sie verloren. Sie hat Bilder von ihr in ihren früheren Leben bei mir zuhause gefunden.
Zurecht hat sie mich für verrückt erklärt und hätte ich ihr nicht alles erzählt, hätte sie wohl für den Rest ihres jetzigen Leben gedacht, dass ich ihr Stalker sei.«
»Hat sie es verstanden?«
»Zunächst nicht, nein. Sie dachte, ich sei ein Spinner.« Ich musste kurz auflachen, »Celias Geschichte hat sie aber überzeugt und nun kann sie gar nicht genug von der Vergangenheit kriegen.«
»Sie kennt Celias Geschichte?« Olive stiegen Tränen in die Augen.
»Ja. Sie hat damals Tagebuch geschrieben und das hat Ally gelesen. Ich habe alles immer sicher aufbewahrt, was ich von meiner Geliebten hatte. Ally hat es alles gelesen.«
»Ich wünschte, James hätte Tagebuch geschrieben.«

Sie brach in Tränen aus.
Ihr ganzes Herz war erfüllt mit einem Schmerz, den ich nur zu gut kannte.
Wahrscheinlich hatte sie lange nicht mehr drüber gesprochen, womöglich sogar noch nie. Niemand konnte wissen, warum sie in Judys, oder besser gesagt, Parkers Leben getreten war und niemand wird ihren unfassbar tiefen Schmerz gekannt haben.
All das Leid der letzten Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, brach in dieser Sekunde über sie ein.

Vorsichtig nahm ich ihren zusammengekauerten, schluchzenden Körper in die Arme und strich ihr über das zu einem geflochtenen Zopf zusammengebundenes Haar.
Ich hielt sie einfach ganz fest, während sie ihr Leben bereute.

Mit ihrem Ärmel wischte sie sich nach einer Weile die Augen und Nase ab.
»Ich will einfach sterben!«, schluchzte sie und ließ sich wieder von mir tröstend in die Arme nehmen.
Ich hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel und sagte dann kaum hörbar in den Wind hinein: »Ich auch ...«

A never ending love story Where stories live. Discover now