Kapitel 5

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Ally wartete noch eine ganze Weile, bevor sie die Tür einen kleinen Spalt öffnete und in den Flur spähte.
Er ist weg, dachte sie erleichtert und sogleich entspannte sich ihr Körper wieder ein wenig, wobei sie sich aber nicht in zu viel Sicherheit wog und jeden Moment damit rechnete, dass sie zurück in ihre Wohnung flüchten und die Tür zuschlagen musste.

Auf das schlimmste gefasst, machte sie sich dennoch die paar wenigen Schritte zum Karton und stieß ihn erstmal nur verunsichert an.
Es regte sich nichts in ihm und sonderlich schwer schien er auch nicht zu sein.

»Also keine lebenden Ratten oder Bomben«, murmelte sie und bückte sich langsam runter, um den Deckel abzuheben.
Zu ihrer Überraschung war der Inhalt des Kartons auf dem ersten Blick harmlos, was sie kurz besänftigte, ehe die Angst in ihr mit einem weiteren Blick doch wieder ein wenig anstieg.

Sie hob den Karton vom Boden und trug ihn in ihr Apartment, wo sie ihn im Wohnzimmer auf den Tisch stellte und erst einmal wieder in die Küche verschwand, um sich einen Wein einzuschenken. Hätte sie etwas stärkeres da gehabt, dann hätte sie sicherlich dazu gegriffen, nur zu ihrer eigenen Enttäuschung, trank sie sonst keinen anderen Alkohol, weshalb der Wein, den sie mal geschenkt bekommen hatte, ausreichen musste, um sie zu ermutigen.

Sie leerte erst ein ganzes Glas und dann noch ein halbes, bevor sie sich gut genug fühlte, um ihrer Neugier nachzugehen.
Sie öffnete wieder den Deckel des Kartons und legte ihn diesmal bei Seite, um mit beiden Händen im Karton zu kramen.

Unzählige Fotos, Briefe, Zeichnungen, Umschläge und ledergebundene Bücher und etwas Schmuck, hauptsächlich Ringe und Ketten, offenbarten sich ihr.

Die erste mit Kohle gemalte Zeichnung, die sie aus dem Karton nahm, ließ sie zurück schrecken.
»Das kann doch nicht wahr sein!«, stieß sie aus, während sie in ihr eigenes Gesicht blickte, welches auf dem vergilbten Papier glücklich den Mund genauso verzog, wie sie es selber sonst tut, wenn sie lächelte.

Sie legte es beiseite und griff nach einem der Fotos, welches ihr schon beim ersten Öffnen des Kartons ins Auge gefallen war.
»Das bin doch ich! Und das da Charlie!« Sie seufzte. »Aber das ist doch gar nicht möglich!« Irritiert legte sie das Schwarzweißfoto auf die Kohlezeichnung und suchte sich weitere Exemplare aus dem Karton, die sie daran zweifeln ließen, was sie sah.

Ein Foto nach dem nächsten, eine Zeichnung nach der anderen. All diese Frauen lächelten sie mit der gleichen Fratze an, die sie tagtäglich im Spiegel betrachtete!

»Ich glaube, ich werde verrückt!« Sie schenkte sich noch einen Wein ein, welchen sie in einem Zug leerte. »Das ist alles ein krankes Spiel, was Charlie da spielt - das ist doch alles bearbeitet! Der Typ hat wirklich mein Gesicht auf all die Gesichter dieser unterschiedlichen Frauen, aller verschiedener Herkunft, Religionen und vor allem Zeiten, gepackt, um mir das hier vor die Tür zu stellen und mich zu verunsichern! Gott!« Ungläubig nahm sie diesmal gleich die Weinflasche und setzte zum trinken an.

»Der Typ kann was erleben«, murmelte sie, als sie sich weiter im Karton vorarbeitete. »Dieser elendige Typ kann was erleben!«

Wahrscheinlich wäre Ally an diesem Abend noch verrückter geworden, hätte sie nicht den Entschluss gefasst, eines der ledergebundenen Bücher aufzuschlagen und zu lesen, was Charlie so zusagen hatte.

Aber war es überhaupt Charlie gewesen, der ihr etwas zusagen hatte?
Sie nahm das schwarze Lederbuch, welches ganz am Anfang ganz oben im Karton lag, und fing an zu lesen.

Lady Celia Cavendish, 11. November 1911...

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