Kapitel 4

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„Ich bringe den Müll runter", Phillip knotete den Müllbeutel in der Küche zusammen und es waren Tage vergangen, in denen ich jeden Gedanken an Michelle Sander verdrängt hatte. Tage, an denen ich nicht an den Zettel gedacht hatte, doch jetzt, wo er der Entsorgung bevorstand, schrillten die Alarmglocken in meinem Innersten. Ich konnte mich nicht mehr bremsen, eilte in die Küche und riss meinem Freund den Beutel regelrecht aus der Hand: „Ich mach schon, du hast bereits letztes Mal alles zusammengesucht." Stirnrunzelnd betrachtet er mich und fragt: „Alles gut bei dir? Du siehst aufgewühlt aus." „Ja, klar", abwehrend kehrte ich ihm den Rücken zu, ging Richtung Flur und rief ihm über die Schulter zu, „Nächstes Mal darfst du diesen tollen Job gerne wieder übernehmen." Lachend gab er mir einen sanften Klaps auf den Hintern und ging Richtung Wohnzimmer: „Wollen wir gleich einen Film schauen?" „Gerne", nuschelte ich und eilte aus unserer Wohnung heraus, kaum dass ich die Worte gesprochen hatte. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, als ich die zwei Stockwerke nach unten taperte und unten vor dem Mülleimer angekommen, versuchte ich mein pochendes Herz zu ignorieren. Vorsichtig öffnete ich den Knoten und wühlte in unserem Müll herum, der Ekel, der sich in mir ausbreitete, ließ mich kurz innehalten. „Du schaffst das, es ist nur Müll", knurrte ich und fischte nach dem kleinen, zerknitterten Zettel. Als ich diesen endlich in meinen Händen hielt, warf ich unseren Müllbeutel schwungvoll in die Tonne und öffnete den Zettel mit fahrigen Fingern.

„Bitte melde dich bei mir, ich würde gerne mit dir reden. Michelle Sander"

Ich stopfte den Zettel in meine Hosentasche und machte mich zurück auf den Weg nach oben, wo bereits der neuste Film mit Jason Stratham in den Startlöchern stand. „Wieder ein Actionfilm?", fragte ich mit hochgezogener Augenbraue und unterdrückte den genervten Tonfall, der sich hervorschleichen wollte. „Das sind die besten Filme, das weißt du doch", erwiderte mein Freund und zog mich enger an sich. „Und du weißt, das sind die Filme, die ich am wenigsten gern schaue", die Schärfe in meinem Ton entging ihm nicht, doch er ignorierte diesen gezielt. „Ich schaue sicherlich keine Liebesschnulze", verteidigte er sich und ich spürte den nahenden Streit in der Ecke lauern. Ich lenkte ein und lehnte mich zurück, ignorierte den Drang aufzuzählen, welche Filme wir in letzter Zeit gesehen hatten, da Phillip immer eine Ausrede fand, warum wir diesen Film und keinen andauern schauen sollten. Während mein Freund wie gebannt auf die Mattscheibe stierte, jede blutige Szene feierte, spürte ich den Zettel in meiner Hosentasche wie brennende Kohlen. Dieser Zettel fühlte sich wie etwas Verbotenes an, weshalb ich ehrlich zu meinem Freund sein wollte.
„Ich habe auf Rheinbeats Frau Sander getroffen", sagte ich, bevor ich es mir anders überlegen konnte. „Die Frau Sander?", fragte mein Freund, dessen Augen noch immer auf unserem Fernseher lagen, „Aus deiner Schulzeit?" „Genau die", bestätigte ich, „Wir haben kurz gesprochen." „Okay", war alles, was er sagte und ich runzelte die Stirn. Er kannte die Geschichte, jedes Detail, auch wenn nicht in der Tiefe, wie meine beste Freundin oder Yvi, aber er wusste genug, weshalb mich die kurze Antwort irritierte. Mein Freund war nie eifersüchtig, aber es hat ihn damals gestört, dass die einzige Person, in die ich vor ihm verliebt war, ausgerechnet eine Frau war. „Okay?", wiederholte ich, in der Hoffnung mehr aus ihm herauszubekommen. „Ja, okay. Habt ihr euch nett unterhalten?", fragte er und ich realisierte, dass es ihn wirklich nicht störte. „Achja, war okay", erwiderte ich, „Sie will sich mit mir treffen, über alte Zeiten austauschen, mehr über meinen Werdegang erfahren." Auch wenn ich nicht wusste, ob es wirklich das war, was sie mit mir besprechen wollte, hielt ich es für das Beste, meinen Freund über ein mögliches Treffen zu informieren. Ich würde es mir in seiner Situation genauso wünschen. „Außer du möchtest das nicht", schob ich hinterher, da ich keine Antwort bekam. „Na klar, triff dich mit ihr. Ich habe da kein Problem mit. Das ist so ewig her, außerdem war es nur eine dumme Schwärmerei von dir", brabbelte er und hatte mir noch nicht einen Blick geschenkt. Seine Worte ließen mein Herz aussetzen, fühlten sich an wie winzige Nadelstiche, die meinen ganzen Körper durchdrangen und quälten.
Eine dumme Schwärmerei. Mehr war das also nicht für ihn, meine Vergangenheit, meine erste Liebe. Es war nur eine dumme Schwärmerei, nichts, wovor er sich fürchten müsste, da wir nie eine gemeinsame Vergangenheit miteinander hatten. Nicht so wie er, mit seiner ersten großen Liebe, mit der er fast vier Jahre zusammen gewesen war. Das war keine dumme Schwärmerei, es war etwas Ernsthaftes, während meine Vergangenheit in seinen Augen, nur eine Farce war. „Okay", brachte ich mühsam hervor und befreite mich aus seiner Nähe, „Ich muss noch was für die Arbeit machen." „Jetzt noch?", er warf einen kritischen Blick auf die Uhr, dann sah er mich an. Ich hoffte er würde mir ansehen, wie sehr mich seine Worte verletzt hatten, doch sein Blick glitt über mich, ohne in die Tiefe zu gehen. „Ja", war meine einsilbige Antwort, die er mit einem Nicken annahm und sich dann wieder dem Film widmete. Ich unterdrückte die Tränen, die sich näherten und ging in unser Büro, wo ich die Tür hinter mir schloss. Schwer atmend presste ich mich gegen die Wand, ließ mich nieder und das Schluchzen, welches aus mir herausbrach, zerriss mich fast. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht mit diesen Worten. Diese unsensiblen Worte meines Freunds, der immer so liebevoll war, dass es mich manchmal fast nervt, weil es mir zu viel wurde.

Eine dumme Schwärmerei.

Beruhigend legte ich meine Hand auf meinen Brustkorb und fischte mit der anderen den Zettel aus meiner Hosentasche. War es nicht mehr als das? Eine dumme Schwärmerei? Hatte mein Freund vielleicht Recht? Warum sonst war es mir heutzutage peinlich über meine Verliebtheit nachzudenken, oder auch nur an unser Gespräch zurückzudenken? Vielleicht war es nicht mehr als das und Frau Sander hatte es genauso gesehen. Das gab sie mir damals mehr als deutlich zu verstehen. Laut ihrer Aussagen hatte ich mir alles nur eingebildet. Ihre intensive, überraschende Umarmung nach dem Sportfest, die all unsere Freunde mit kritischen Augen verfolgt hatten. Unsere Gespräche vor dem Biologieraum, die viel zu schnell, viel zu persönlich wurden. Ihre Blicke, die auf dem Flur auf mir ruhten, ihre Begrüßungen, die sie nur an mich gerichtet hatte, obwohl so viele andere um uns herumgestanden hatten. Für mich war es mehr, für sie nicht – und das war legitim, denn immerhin war sie 15 Jahre älter als ich, sie konnte die Situation besser einschätzen als ich und ich hatte sie in eine unmögliche Situation gebracht. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, war mein Freund im Recht. Es gab keinen Grund, einem Treffen nicht zuzustimmen.

Ich kramte mein Handy hervor, tippte Frau Sanders Nummer ein und zögerte dennoch, ihr sofort zu schreiben. Allein ihren Namen und ihre Nummer in meinem Handy eingespeichert zu haben, fühlte sich wie ein Traum an. Wieder und wieder katapultierte es mich in die Vergangenheit zurück und als ich meine erste Nachricht an sie abgeschickt hatte, fragte ich mich, ob ich hier wirklich das Richtige tat.

„Es ist so eine dumme Schwärmerei!", erwiderte ich genervt, als ich auf dem Bett von Anni lag und wir über das letzte Zusammentreffen mit Frau Sander sprachen, „Wie kann ich mich in eine Lehrerin verlieben?" „Immerhin bist du jetzt zu dieser Erkenntnis gekommen", sagte Anni und feilte sich weiter ihre Nägel, „Das ist doch schon mal der erste Schritt in die richtige Richtung, oder nicht? Du weißt also, du findest nicht nur Jungs interessant." „Aber Anni – was habe ich davon, wenn diese Person auch noch unerreichbar ist? Das ist doch bescheuert", schimpfte ich und dachte an Frau Sanders heutige ignorante Art zurück, „Und heute war sie echt komisch." „Meinst du heute vor Sport?", hakte Anni vorsichtig nach, die wusste, wie empfindlich ich heute drauf war. „Ja, sie hat mich komplett ignoriert", murmelte ich und fuhr mir gedankenverloren über meinen Unterarm, der empfindlich auf die Berührung reagierte. „Sie hat uns alle ignoriert", versuchte es Anni und ich wusste, dass sie Recht hatte, trotzdem war ich schlecht drauf und bezog es auf mich, „Vielleicht ist etwas passiert oder sie hatte es eilig. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber." Ihre Aufmunterung ging in ein Ohr hinein und aus dem anderen wieder hinaus, ich war gefangen in meinem Film und rügte mich wieder für diese Verliebtheit, die ich zumindest endlich eingesehen hatte. „Warum kann ich sie nicht einfach nur wie ein Vorbild sehen – jemand wie ich sein will?", fragte ich ein wenig verzweifelt, denn das war mein anfänglicher Gedanke gewesen. Ich hatte mir lang genug glaubhaft gemacht, dass ich nur ihre Bestätigung und Aufmerksamkeit wollte, weil ich wie sie sein wollte. „Lea", Tadel schwang in der Stimme meiner besten Freundin mit, „In zehn Jahren wirst du darüber lachen, jeder fand mal einen Lehrer oder eine Lehrerin toll. Das geht schneller vorbei, als du weiter darüber nachdenken kannst. Jetzt ist es scheiße, aber ist nicht für die Ewigkeit und du wirst jemanden finden, der diese Gedanken an Frau Sander vertreiben wird. Irgendwann erinnerst du dich vielleicht nicht mal mehr an ihren Namen – so wie bei mir damals mit Herrn Springer. Du musstest mir mit dem Namen auf die Sprünge helfen, erinnerst du dich?" Ich wusste meine beste Freundin wollte mir nur gut zureden, mir Hoffnung machen und Mut geben, aber ich ahnte tief in meinem Innersten, dass ich diese Frau niemals vergessen würde.

Das Echo der Erinnerung (gxg)Kde žijí příběhy. Začni objevovat