Kapitel 1

398 65 22
                                    

Zehn Jahre später.

„Lea, warte!", Annikas Hand schnellte nach vorne und hielt mich mit einem Ruck an Ort und Stelle fest, „Ich finde meinen Ausweis nicht!" Seufzend blieb ich stehen, drehte mich zu meiner besten Freundin und warf einen Blick in ihre chaotische, kleine Handtasche. „Mich wundert bei deiner Ordnung nichts mehr", erwiderte ich lachend und wühlte nun ebenfalls in ihrer Tasche, „Du bist aber sicher, dass du ihn eingesteckt hast?" „Marco hat mich vor der Abfahrt dran erinnert, ich habe den Ausweis definitiv in die Tasche gepackt!", antwortete Annika und knabberte an ihrer Unterlippe, eine Angewohnt die sie seit Kindertagen pflegte. „Lass mich mal", murrte ich, da Annikas Ungeduld die Suche behinderte. Ich nahm die schwarze Tasche an mich, schob Lipgloss, Kaugummis und Haarbänder zur Seite, um wenig später Annikas Ausweis aus den Untiefen ihrer Handtasche zu ziehen. „Tadaaaa!", rief ich und zwinkerte ihr zu, „Ich sollte deine Taschenmanagerin werden." „Sehr witzig, Lea", Annikas Laune kippte und ich ahnte, dass es nicht nur an ihrer Unordnung in ihrer Tasche lag. „Alles in Ordnung bei euch? Im Auto habt ihr kein Wort miteinander gesprochen", fragte ich vorsichtig nach, während wir uns der Ausweiskontrolle näherten. Annikas Schultern waren angespannt und ihre Mimik eingefroren, etwas stimmte definitiv nicht: „Wenn ich jetzt sage, es ist alles gut, würdest du mir nicht glauben, oder?" „Nein, das stimmt", gab ich zu, denn meine beste Freundin konnte mir nichts vormachen, dafür kannte ich sie zu gut, „Was ist los?" Seufzend lehnte sie sich an mich und erklärte: „Wir haben wieder wegen dem Studienplatz gestritten. Er will seinen Master unbedingt in Berlin machen, allerdings kann und möchte ich hier nicht weg. Du weißt, wie krank meine Mutter ist, jetzt zu gehen und vielleicht nicht da zu sein, wenn..." Annika stoppte, Tränen schwammen in ihren Augen und ich legte schützend einen Arm um ihre zierliche Taille: „Ich dachte, er will seinen Master in Hannover machen? Das wäre viel näher und erfordert keinen Umzug, ooooder..." „Ich will keine Fernbeziehung, Lea", unterbrach sie mich, da sie genau wusste, was ich sagen wollte. Phillip und ich waren vor zwei Jahren diesen Schritt gegangen, als er für einen Job ein Jahr in den Süden sollte. Ein Jahr Fernbeziehung – und wir hatten es überlebt, allerdings war solch eine ungewohnte Situation wohl nicht für jeden was. „Okay, okay, sorry! Ich dachte einfach, es könnte ein Kompromiss werden, jedoch bin ich davon ausgegangen, Marco würde sein Studium in Hannover fortführen", beschwichtigte ich sie und hielt dem Mann am Empfang meine Tasche entgegen. Er warf einen prüfenden Blick hinein, schaute mich kurz an und winkte mich durch. Annika erging es genauso, weshalb sie meckerte: „Jetzt habe ich die ganze Zeit nach diesem Ausweis gesucht und jetzt wollten sie ihn nicht mal mehr sehen?!" „Wir sind eben keine 18 mehr", lachte ich und verstaute alles wieder an Ort und Stelle. „Eigentlich sollte der Ausweis dafür da sein, den Namen mit dem Ticket abzugleichen!", berichtigte sie mich und ich zuckte nur mit den Achseln. „Auch egal, lass uns etwas zu trinken holen und dann erzählst du weiter", ich zog sie hinter mir her, wich einer Pfütze aus, die den Erdboden matschig hinterlassen hatte und steuerte auf die kleine Hütte, mitten auf dem Veranstaltungsgelände, zu.

Die erste Open-Air-Veranstaltung im Jahr begrüßte uns mit wummernden Bässen, einer strahlenden Sonne und ausgelassenen, tanzenden Menschen. Glücklich nahm ich die Umgebung in mich auf, ließ meinen Blick über die Menge schweifen und lauschte dem ersten DJ des Tages. Wie ich diese Jahreszeit, diese Stimmung und Ausgelassenheit vermisst hatte. Der Winter fühlte sich immer wie eine Pause an, eine wohltuende, aber auch triste Angelegenheit – der Frühling gehörte zu meiner liebsten Jahreszeit, dicht gefolgt vom Sommer. Die Vögel zwitscherten gegen die Musik an, gingen jedoch kläglich unter und waren nur noch am Rande der Veranstaltung zu vernehmen. Lichtkegel flackerten über den sandigen Boden, doch noch war es nicht dunkel genug, um wirklich eine Wirkung zu erzeugen, aber ich freute mich schon jetzt auf die heimelige Atmosphäre am Abend. Mein Kopf wippte bereits zum Beat und auch Annikas Kopf bewegte sich seicht hin und her. Wieder legte ich einen Arm um sie und raunte ihr ins Ohr: „Sei ehrlich zu Marco, redet miteinander, mehr kannst du nicht tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er kein Verständnis für deine Situation hat. Ihr seid seit drei Jahren zusammen, und er liebt deine Mutter. Er sollte der Letzte sein, der deinen Wunsch hier zu bleiben, nicht nachvollziehen kann. Was ist denn aus Hannover geworden?" Ich hörte Annika seufzen, sie studierte die Getränkekarte und versuchte Zeit zu schinden, ich drängte sie nicht weiter, sondern tat es ihr nach. Für mich würde es der Klassiker schlechthin werden, ein Aperol Spritz. Bei Annika tippte ich auf eine Weinschorle, da sie den bitteren Geschmack vom Aperol nicht mochte, aber vielleicht überraschte sie mich heute auch noch. Nach zwei Minuten der Stille, räusperte Annika sich und erzählte von dem letzten Gespräch der beiden. Ich lauschte ihr gespannt, aber auch voller Unglauben. Was war nur mit Marco los? Doch bevor ich etwas erwidern konnte, waren wir endlich an der Reihe. Wir bestellten einen Aperol Spritz, sowie eine Weinschorle – ich lag wie immer richtig. Kurz darauf stießen wir an, da fuhr ich fort: „Er soll sich erstmal in Hannover beraten lassen, bevor er sich Hals über Kopf für Berlin entscheidet! Nur wegen einem Fach? Das kann doch nicht die Welt sein." Annika nippte an ihrem Wein und erklärte bedrückt: „Ich werde das Gefühl nicht los, dass er unbedingt hier weg möchte. Irgendwas hat sich verändert... Da kommen sie!"

Das Echo der Erinnerung (gxg)Where stories live. Discover now