Muckefuck und Schande

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Vor urlanger Zeit lebte in den Meeren eine Schildkröte, deren Namen niemand kannte, deren faltige Haut von ihrem uralten Leben zeugte und deren Zuhause der Weg im Meer war, den sie ihr Leben lang zurücklegte. Die Alten und Weisen nannten sie Il Saggio, die Lebenskluge. Zu eben jener Zeit war es den kleinen Meeresschildkröten, die schlauer waren als alle anderen, vorbestimmt den Bahnen von Il Saggio zu folgen und von ihr zu lernen. 

Da Il Saggio in ständiger Bewegung lebte, könnt ihr euch denken, dass das kein leichtes Unterfangen war. Ein Jahr lang hatten sie Zeit, um Il Saggios Spur zu entdecken. Gelang es ihnen, durften sie zwei Jahre an ihrer Seite schwimmen. Aber immer nur eine kleine Schildkröte zur Zeit. Ihr merkt schon, dass das kein leichter Weg war, den die kleinen Meeresschildkröten beschreiten mussten. Nicht selten kam es vor, dass sich welche verweigerten die Strapazen auf sich zu nehmen und verstoßen wurden, weil sie ihrer Bestimmung nicht folgten. 

Muckefuck war anders. Er kannte keine Scheu und keine Strapaze war ihm zu groß. Er wollte an der Seite Il Saggios schwimmen und lernen. Die kleine Meeresschildkröte war einer der Helden, die es geschafft hatten. Zwei Jahre schwamm er an ihrer Seite, lernte viel über das Leben und wie die Welt funktioniert. Jetzt aber war die Zeit des Abschiednehmens gekommen. Mit Wehmut im Herzen und Tränen in den Augen winkte Muckefuck mit seinen kleinen dicken Beinchen der alten Schildkröte hinterher, die sich majestätisch von ihm entfernte, auf ihrer immerwährenden Reise durch die Meere. Tapfer drehte er sich um und dachte an ihre Abschiedsworte: „Muckefuck, beachte stets! Was für dich heute das Ende bedeutet ist gleichzeitig der Beginn von etwas Neuen. Gib dem, was da kommen mag, eine Chance." Diesen Rat beachtete Muckefuck stets. Monatelang schwamm er seiner Heimat entgegen und begegnete dabei vielen sonderbaren Gestalten. Er schloss Regie den Rochen und Karl den Kraken in sein kleines Schildkrötenherz; hielt Abstand von der Qualle Quadrille und konnte sich nicht sattsehen an den vielen bunten Fischschwärmen, die ihm begegneten. Dabei war das Meer nicht immer ruhig und glatt, oft war es stürmisch und der Sog zog Muckefuck mal hier- und mal dorthin. Eigentlich kam unser kleiner Held damit ganz gut zurecht. Er war ja nicht dumm, lebte im Meer und kannte sich aus. Als er es eines Tages mit einer besonderen Wetterlage zu tun bekam, das Meer ihn ordentlich durchschüttelte, sodass er gar nicht mehr wusste, wo oben und unten war, wurde er von einer besonders starken Welle an Land gespült. Noch völlig benebelt von dem heißen Ritt auf der Welle, lag er mit seinem Panzer im Sand und strampelte mit seinen Beinchen in der Luft. Wusste noch gar nicht, wie ihm geschah, als er einen strengen Geruch wahrnahm. Mit Panik in seinen großen Augen, schielte er zu dem kleinen feuchten Maul, das mit hektischer Bewegung an ihm herumschnupperte.

„Na, wen haben wir denn da? Sieht ja aus, wie kalter Kaffee, was mir hier vor die Hufe gespült wurde", meckerte das Tier und stupste Muckefuck freundlicher, als das Gemecker es vermuten ließ von unterwärts an seinen Panzer, sodass er mit Schwung wieder auf seinen Beinchen landete. Benommen wackelte er mit seinem Köpfchen hin und her und betrachtete immer noch mit ein bisschen Angst im Blick, aber auch mit Entdeckerfreude, das Geschöpf, das ihm gerade das Leben gerettet hatte. Denn Muckefuck wusste - wäre er auf seinem Panzer liegengeblieben, hätte er das nicht überlebt. Er wäre verhungert, verdurstet oder von der Sonne ausgedörrt worden.

„Ich heiße Muckefuck und bin eine kleine Meeresschildkröte auf dem Weg nach Hause von einer langen Reise", erwiderte er deshalb in ausgesucht höflichem Ton, "und ich bedanke mich recht herzlich bei dir dafür, dass du mir das Leben gerettet hast", fuhr er fort.

„Sieh an, sieh an!", meckerte die Ziege. „Sieht nicht nur so aus, wie kalter Kaffee, heißt auch noch so."

Langsam wurde es Muckefuck zu bunt. Obwohl er nicht wusste, wovon dieses Tier sprach und ihm mit diesen Worten sagen wollte, fühlte er sich doch etwas beleidigt. Auf der anderen Seite war seine Neugierde geweckt. Hörte er doch, dass dieses Geschöpf über ganz anderes Wissen verfügte, als Il Saggio. Mit leisem Groll und Trotz in der Stimme sprach er zu dem fremden Wesen: „Wer oder was bist du, dass du mich beleidigst?" Meckernd riss das zarte Tier, was auf ein noch junges Alter schließen ließ, sein kleines Maul auf, sodass er die länglichen, krumm vorstehenden Zähne sehen konnte, die vorher von den weichen Lippen verdeckt wurden.

„Keine Angst, kleiner Freund, das ist gar nicht so böse von mir gemeint, wie es dir gerade vorkommt. Ich bin ein Ziegenbock und wir Ziegen sind etwas robuster im Umgang miteinander und mit anderen. Ich heiße Schande und bin auch noch jung an Jahren. Stoße mir sozusagen noch die Hörner ab.", erklärte sich das Tier, während es mit seinem Köpfchen und den kleinen Hörnern in der Luft herumwackelte.

„Schande?", fragte Muckefuck in zweifelndem Tonfall nach. „Ist das wirklich dein Name?"

„Nicht besser und nicht schlechter, als Muckefuck, wenn du mich fragst.", erwiderte der kleine Ziegenbock und ließ sich gelassen vor Muckefuck in den feuchten Sand am Wassersaum fallen.

„Na ja", prustete Muckefuck, weil er sich beim Sprechen fast an dem Wasser verschluckte, in dessen Sicherheit er sich zwischenzeitlich zurückgezogen hatte. „Muckefuck heiße ich nicht wegen meines Aussehens. Man nennt mich so, weil ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich ein Muck oder eine Muckeline sein wollte. Muckefuck war das Einzige, was meinen Eltern dazu einfiel. Sie lieben mich aber trotzdem."

„Da hast du großes Glück, kleiner Muckefuck.", entgegnete der Ziegenbock mit rauer Stimme. „Ich mochte die kleinen Böcke in unserem Stall und meinen Eltern fiel dazu nur Schande ein, als sie mich vom Hof vertrieben. Hier am Meer fühle ich mich wohl. An diesen Strand verirrt sich kaum mal ein Geschöpf und wenn, dann sind es so nette Gesellen, wie du. Hier nehmen mich alle, wie ich bin, hier darf ich sein, wie ich will." Bedächtig wiegte Muckefuck seinen kleinen Kopf hin und her. Dieses Gespräch wurde immer interessanter. Denn bei all dem Wissen, das er in den zwei Jahren bei Il Saggio aufgesogen hatte, erlangte er dennoch keine Erkenntnis darüber, wer oder was er war. Wenn dies hier wirklich ein Ort sein sollte, an dem man leben konnte, wie man wollte, dann ... ja dann ...

Jahre später strandete Il Saggio an ebendiesem Strand und stieß auf Muckefuck und Schande. Geduldig hörte sie sich die Geschichte von Muckefucks Rettung an. Wie er von Neugierde getrieben seinen Weg nach Hause unterbrach, um von Schande zu lernen, wie er leben konnte, wie es ihm gefiel. Zwei Jahre schienen ihm damals dafür eine gute Zeit. Mehrmals täglich trafen sie sich hier am Strand und führten die verschiedenartigsten Gespräche, während sie den Rest des Tages damit beschäftigt waren, sich jeder seine Nahrung zu suchen, wie er sie benötigte. Der eine an Land und der andere im Wasser. Wassersaumzeiten, tauften sie diese Treffen, denn anders war es nicht möglich. Brauchte der eine die Luft zum Atmen, konnte der andere nur überleben, wenn er im Wasser war. Zwei Jahre schienen Muckefuck damals eine gute Zeit für seine Reiseunterbrechung. Hatte ihm die Zeit bei Il Saggio doch gezeigt, dass man viel kernen konnte in dieser Zeitspanne. Als aber der Abschied von Schande nahte, nahmen sie erst richtig wahr, wie nahe sie sich in ihren Wassersaumzeiten gekommen waren. Aus ihrer Freundschaft war ein tieferes Gefühl entstanden. Menschen nennen es Liebe, aber können Tiere lieben? Dazu noch Tiere, die so unterschiedlich sind, wie diese Zwei? Sie wussten es nicht.

Bedächtig wiegte Il Saggio ihren Kopf, als die Erzählung der beiden endete und sprach leise ihre Weisheit: „Gefühle lassen sich nicht vorschreiben, wen oder was man zu lieben hat. So hast du, kleiner Muckefuck, deinen Weg gefunden und das Letzte gelernt, was ich dir nicht beibringen konnte. Ich konnte dir all mein Wissen vermitteln, aber deine Erfahrungen musstest du alleine sammeln." Mit diesen Worten verschwand die weise Schildkröte wieder im Meer. Am Wassersaum ließ sie eine kleine Meereschildkröte und einen Ziegenbock zurück. Wenn ihr ganz genau hinseht, könnt ihr das kleine Herz in der Luft erkennen, was als Zeichen ihrer Liebe über ihnen schwebt.

Ende

Muckefuck und SchandeWhere stories live. Discover now