Epilog

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,,Luke?" Danielle betrat das Zimmer, nachdem er ihr Bruder auf das Klopfen nicht reagierte. ,,Wie weit bist du? Dad braucht kurz unsere Hilfe beim Schrank."

Luke saß im Schneidersitz auf dem Boden, vor sich eine Box. Das, was augenscheinlich einmal ein Schuhkarton gewesen war, reichte kaum aus für die Masse an Zetteln, die herausquoll. Eine Ecke war schon gerissen, der Deckel mehrfach mit Klebeband zugekleistert.

,,Huhu, hörst du mich?" Danielle runzelte die Stirn. ,,Was ist das?" Sie kam näher und blickte ihm über die Schultern. ,,Du hast den Mist behalten?"

,,Mh. Hab Beweise gesammelt, früher. Charlie meinte, ich soll das machen. Falls wir Elijah verpfeifen."

,,Hat sich ja am Ende anders geregelt."

Abrupt drehte Luke sein Gesicht zu ihr.

,,Ich meine, weil du dich gewehrt hast, du Idiot", schnaubte seine Schwester. ,,Nicht weil er sich umgebracht hat."

Luke rümpfte die Nase.

,,Schmeißt du's jetzt weg?" Sie bückte sich, hob einen Zettel, den Luke mit anderen Papierfetzen neben sich gelegt hatte, auf und las. ,,*Hurensohn*. Mit kleiner Mittelfingerzeichnung am Rand. Süß. Warum behältst du das? Wie lang ist das jetzt her?"

,,Weiß nicht. Achte Klasse? Neunte?"

,,War schon scheiße von ihm, dass er einfach so angefangen hat, dich zu mobben. Versteh ich bis heute nicht." Danielle legte den Zettel wieder zurück in die Box. ,,Kommst du jetzt? Wir müssen den Schrank abgebaut haben bis morgen, da kommen die Umzugshelfer."

,,Ed meinte mal, ob ich mir darüber Gedanken gemacht hab, ob ich vielleicht Schuld bin." Luke lachte, aber es klang nicht so überzeugt wie sonst. ,,Ich meinte, dass das lächerlich ist, ich hab ihn schließlich nie ernsthat gemobbt."

,,Eduard ist manchmal echt seltsam." Danielle schüttelte den Kopf. ,,Wann war das?"

,,Keine Ahnung. Vor kurzem."

,,Es ist auf jeden Fall Quatsch. Und jetzt komm." Sie stand schon wieder an der Tür. ,,Luke, ernsthaft, mach jetzt nicht wieder ein Fass auf. Er hat angefangen, dich zu mobben. Du warst das Opfer in der Situation, bis du angefangen hast, dich zu wehren."

Mit der Box in der Hand stand Luke auf. ,,Manchmal brauch ich die Zettel, um mich daran zu erinnern", murmelte er, kaum hörbar. ,,Aber die Box kommt eh weg, da sind auch noch die ganzen Vokabelteste aus Franze und irgendwelche Elternbriefe drin." Er grinste, dieses Mal wieder mit seinem gewohnt selbstsicheren Ausdruck im Gesicht. ,,Kommst du nachher mit zu Jonas? Wir verbrennen diesen Kram in seiner Feuertonne."

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,,Wie bist du überhaupt an das Tagebuch gekommen?" Kari sah sich nervös um. Sie wusste nicht einmal, warum sie so paranoid war. Außer Charlie und ihr war kaum jemand in der Mainperle.

,,Ich glaube, er hatte es dir schicken wollen und sich dabei in der Adresse vertan."

Sie nickte langsam. ,,Ich verstehe nicht, dass ich nichts gemerkt habe. Dieses Treffen hier, als wir das letzte Mal alle zusammen waren, war auch das letzte Mal, wo ich ihn gesehen hab. Hab ich irgendwas gemacht, dass er mir nichts gesagt hat?"

Charlie starrte auf seinen Kaffee. ,,Wenigstens hättest du was gesagt."

,,Wie meinst du das?"

Er schüttelte den Kopf. Eigentlich hatte er damit abgeschlossen. Meistens. Manchmal, wenn er nachts wachlag, kamen die Gedanken daran noch hoch. Dann dachte er an den Abend, an dem er Elijah getroffen hatte, mit all den Verletzungen. An dem er zur Polizei hätte gehen müssen. Oder zumindest genauer nachfragen, was passiert war. Elijah überzeugen, sich Hilfe zu holen. Aber darin war er noch nie gut gewesen.

,,Charlie, du hast mir gesagt, dass ich immer mit dir reden kann. Du weißt, dass das auch andersrum gilt, oder?"

Wenn sie wüsste. So sehr das auch für ihn abgeschlossen war. Weder Luke noch er selbst hatten verdient, dass Elijah diese Sache mit ins Grab nahm. Wenn er es schon nicht in sein Tagebuch geschrieben hatte.

,,Naja, Ich glaub das war circa 2014, vielleicht schon 2015, als er irgendwie komisch wurde. Erst war er eine Woche oder so nicht da, dann hat er angefangen, Luke zu mobben. Beleidigt, Beine gestellt, einmal haben die sich auch geprügelt. Elijah war damals mit so komischen Leuten befreundet, ich kenn die nicht, das hielt aber auch nicht lang. Aber sie waren halt in der Überzahl, und ein bisschen älter."

Kari runzelte die Stirn. ,,Aber wir waren doch auch schon befreundet. Warum hab ich das nie mitbekommen?"

,,Weil Luke wollte, das wir dicht halten. Das war ihm alles unangenehm, auch, sich Hilfe zu holen. Was meinst du, wie oft ich ihm gesagt hab, er solle wenigstens unserem Klassenlehrer Bescheid sagen."

,,War der nicht auch Vertrauenslehrer?"

,,Er hätte es sicher verstanden. Aber nein, Luke wollte das selber regeln." Charlie verdrehte die Augen. ,,Dann war Elijah mal wieder für ein paar Wochen weg."

,,So lang ging das?", fragte Kari überrascht.

,,Zwischendurch wurde das auch mal besser", lenkte Charlie ein. ,,Aber als er dann wiederkam, war Luke angepisst. So richtig. Verständlich, irgendwie."

Von Kari kam keine Reaktion, weder Zustimmung noch Verneinung. Also fuhr er fort.

,,Naja, er hat dann angefangen, es ihm heimzuzahlen. Also er und seine Freunde. Als wir ab der Oberstufe die Klassen neu durchgemischt haben, hat sich das ja alles irgendwie geändert... Wie dem auch sei."

Kari wusste nicht, was sie von dieser Erzählung halten sollte. Es fiel Charlie sichtlich schwer, zu erzählen. Er wippte mit dem Fuß und schaffte es nicht, sie anzusehen. Stattdessen starrte er in den Kaffee, der vor ihm stand und den er immer noch nicht angerührt hatte.

,,Und du?"

,,Was?"

,,Hast du mitgemacht?"

,,Ja. Naja, zuerst. Wir waren halt sauer, und er hatte uns komplett ignoriert, als er wiedergekommen war. Irgendwann hatten Luke und ich nicht mehr so viel Kontakt, auch weil ich langsam fand, dass es genug war. Und wir kamen auch gut zurecht, wenn wir allein waren. Zumindest als Herr Roth uns im Wahlpflichtkurs zusammengesetzt hat. Und wenn wir uns alle zusammen getroffen hatten, bevor er das letzte Mal so lange weg gewesen war, war ja auch immer alles gut.

Im Nachhinein war das wahrscheinlich ziemlich dumm. Vielleicht hätte ich was gesagt, als er Elijah irgendwann mit einem Messer angegriffen hat. Weil es für Luke nie genug war. Er war so sehr in seinem Rache-Wahn drin. Zwar habe ich mich immer mehr zurückgezogen, getan hab ich jedoch nie was dagegen.

Und dann, vor ein paar Tagen, bin ich Elijah auf der Straße begegnet. Luke hatte ihn mit einem Messer angegriffen und übel zugerichtet. Er sah aus, als würde er gleich umkippen. Und da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass ich nicht besser als Luke war. Im Grunde war es meine Schuld, ich wusste davon. Ich hatte die Chance, zu tun, was weder Elijah noch Luke getan haben. Hilfe holen. An dem Abend hatte ich ein seltsames Gefühl, die leise Vorahnung davon, was er vorhatte. Und wieder war ich zu blöd..."

Charlie brach ab. Kari sah, wie seine Augen glitzerten. ,,Ich habe mich irgendwie überschätzt. Ich dachte, wenn ich nur mit ihm rede, dann... Er hat gesagt, er will sich wegen seiner Krankheit umbringen. Aber vielleicht hätte er sich anders entschieden, wenn alles anders gekommen wäre."

Irgendwas würde sie jetzt sagen müssen. Irgendeine Reaktion. Ja, dachte Kari.Vielleicht. Wenn alles anders gekommen wäre. Was sagte man zu so einer Erzählung am Todestag seines besten Freundes? Was tat man, ohne einfach das Café zu verlassen?

ElijahWhere stories live. Discover now