Short Story [Krimi]

12 4 5
                                    

Der perfekte Freund

„Er ist der perfekte Freund", denkt sie stur, während ihre Beine sie die Treppe zu ihrer Wohnung in dem Mehrfamilienhaus hinauftragen.

„Er ist mein Freund, seit einem Jahr."

„Er ist mein Freund und wir sind gerade erst zusammengezogen." An diesem Gedanken hing sie, wie an einem Rettungsring, schließlich hätten sie diesen Schritt nicht gewagt, wenn sie sich nicht beide sicher wären. Wenn einer von ihnen daran zweifelte, ob sie doch nicht füreinander bestimmt seien.

„Er ist mein Freund, er liebt mich", will ihr Kopf stoisch alle Zweifel beseitigen.

„Er ist mein Freund. Ich kenne ihn, niemand kennt ihn so gut wie ich." In einer Mischung aus Zorn und Entschlossenheit ziehen ihre Finger den Wohnungsschlüssel aus ihrer Jackentasche. Das kleine Schließwerkzeug in ihrer Hand strahlt in frischem Glanz, neu und unverbraucht. Genervt stößt sie die Tür auf, wobei sie mehr Schwung aufwendet als gewollt.

Sie ist müde von einer erneuten Nachtschicht, entnervt von dem Streit mit ihrer Freundin. Carolins Worte spuken in ihrem Kopf umher, egal wie sehr sie sich bemüht, ihnen stillschweigend Argumente entgegenzuwerfen, welche ihr mal wieder viel zu spät eingefallen sind. Der Schlüssel landet achtlos auf der Kommode im viel zu schmalen Flur, dessen Wände mit den komischsten Bildern verziert sind. Sie selbst fand an ihnen keinerlei Gefallen, doch ihr Freund war regelrecht besessen von dem, was er als groteske Kunst betitelte.

„Toby?", ruft sie forschend in die Stille. „Ich bin zu Hause." Keine Antwort.

Sie durchsucht die Wohnung, sucht in der Küche und im winzigen Wohnbereich. Das Bett im Schlafzimmer ist nicht gemacht, die Decke wurde aufgewühlt zurückgelassen.

„So ein komischer Typ! Ich sage dir, etwas stimmt mit ihm nicht", ertönt die Stimme ihrer Freundin erneut in ihrem Ohr. Die Zweifel, welche sie noch vor wenigen Stunden zu streuen versuchte.

„So ein Schwachsinn", denkt sie. Der Grund ihres Streits war genau so banal wie unnötig. Caro hatte Tobias nie gemocht, ihn nie an der Seite ihrer besten Freundin geduldet. Alle anfänglichen Befürchtungen, es könnte lediglich pure Eifersucht im Spiel sein, hatte sich nie bewahrheiten können. Ganz so abwegig erschien es zwar nicht, ein junger Mann, 1,82 groß, gutaussehend, dunkle kurze Haare, mit vielen Tattoos, welcher mitten in seiner Ausbildung steckte. Für sie war er schon immer ihr absoluter Traummann gewesen, Paula und Tobias. Sie führten keine Bilderbuchbeziehung, aber dennoch eine glückliche. Ähnliche Interessen, der gleiche Geschmack, zwar nicht in Kunst aber in Musik. Ein gleicher Studiengang, ähnliche Berufsaussichten. Eine spätere Zukunft im gleichen Krankenhaus, sie als Ärztin, er als Pathologe. Sie schienen sich nahezu perfekt ergänzen zu können, wer konnte das schon von sich behaupten. Paulas Eltern zumindest nicht. Ihr Vater hat ihre Mutter verlassen, als sie 16 war. Er zog nach Dubai, hin zu seinen Häusern, welche er seiner Tätigkeit nach dort bauen ließ und hin zu seinen vielzähligen Affären. Er verpasste die Feier zu ihrem 18. Geburtstag, ihren Schulabschluss, ihren Abiball. Seit er ging, war er kein Teil ihres Lebens mehr. Alles, was er noch immer für sie tut, ist zahlen. Jeden Monat den gleichen Betrag, welcher hauptsächlich in die Finanzierung des kostspieligen Medizinstudiums fließt.

Sie muss feststellen, dass die Wohnung verlassen ist. Sie war kein Kontrollfreak, keine Helikopterfreundin, keine Verrückte. Sie hatte ihm noch auf ihrer Arbeit aus dem Club heraus angerufen, direkt nach dem Streit. Hatte ihm aufgebracht über den Lärm der Musik hinweg davon erzählt. „Wir reden darüber, wenn du wieder da bist, ich warte auf dich", versprach er. Versprechen gebrochen.

Wie vor einigen Stunden wählen ihre Finger beinahe automatisch seine Nummer in ihrem Handy ein. Es klingelt. Niemand hebt ab. Sie versucht es erneut. Nochmal und nochmal. Allmählich wird sie sauer. Es ist zu früh für ihn, um auf der Arbeit zu sein. Sie versucht es ein letztes Mal, tatsächlich nimmt er ab.

„Paula?", fragte er. Seine Stimme klingt gehetzt, sein Atem geht schnell.

„Wo bist du?" will sie sagen, doch seine hörbare Verfassung hält ihn davon ab.

„Was ist los?", fragt sie stattdessen. Es erscheint ihr nicht mehr nur merkwürdig, sonst jetzt auch besorgniserregend.

„Schatz, ich bin beschäftigt", ruft er. Im Hintergrund ist Lärm zu hören, welchen sie nicht zuordnen kann.

„Okay, alles klar", erwidert sie zögerlich, „Komm bitte bald."

Er verspricht es, beteuert jedoch, dass er nicht wisse, wann er zurückkehren werde. Er sei sehr beschäftigt. Sie habe Verständnis dafür, sagt sie. Tobias verabschiedet sich. Er will bereits auflegen, doch kurz bevor das übliche Geräusch eines beendeten Anrufes durch ihre Lautsprecher tönen kann, erklingt eine schrille Stimme im Hintergrund. Ihr Freund flucht, während ihr das Handy aus der Hand gleitet und zu Boden fällt.

„Paula Bitte hilf mir!", schreit Caro hysterisch in sein Handy, ehe alles still wird.

Tobias ist der perfekte Freund, der immer für sie da ist. Er kümmert sich um ihre Probleme, denn er ist perfekt, er ist immer für sie da. Ihre Probleme werden beseitigt. Ob sie will, oder nicht.

—-
Die Geschichte habe ich im Rahmen eines Workshops unserer Schule geschrieben. Ich habe hier noch das Gruppenergebnis zu dem Profil der einzelnen Charaktere hochgeladen, wonach sie die Geschichte richten musste (leider mit meinem Toaster aufgenommen).
Mein erster Gedanke, nachdem ich mit dem Schreiben fertig war: „Das kommt auf Wattpad"

 Mein erster Gedanke, nachdem ich mit dem Schreiben fertig war: „Das kommt auf Wattpad"

Oops! This image does not follow our content guidelines. To continue publishing, please remove it or upload a different image.
Short Stories Where stories live. Discover now