Schleichende Erkenntnis

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„Du hast sie gesehen?"

*Lilly*

Schweigend liefen wir ein paar Minuten nebeneinanderher. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen. Unauffällig schielte ich zu ihm, doch ließ es gleich wieder bleiben, als ich sah das es immer noch in ihm brodelte. Seine Gesichtszüge waren hart und seine Lippen fest aufeinandergepresst. Nach einer Weile hielt er das Schweigen nicht mehr aus. Fassungslos sah er mich an, entfernte sich einen Schritt von mir und blieb mitten auf dem kleinen Pfad, welcher zurück in den Wald führte, stehen. Mittlerweile war es Dunkel und die Nacht wurde nur durch das schwache Mondlicht erhellt. Die Luft war so eisig klar, dass die Kälte in meinen Lungen brannte. Der Wind hinterließ auf meiner Haut ein unangenehmes Prickeln und ich zog meine Jacke fester um meinen Körper.

Er musterte mich erneut. Nun war es an mir verwirrt auszusehen. Ich zog meine Stirn in Falten. „Was ist los?" Unsicher stieß ich ein leises Lachen aus. Was hatte er denn? Er war die ganze Zeit schon so seltsam gewesen. Erst seine Reaktion im Haus und jetzt sah er mich an, als würde er einen Geist sehen. Er war so aufgelöst. Der Wald wurde dichter, Nebel waberte schwer zwischen den Bäumen und hüllte die Umgebung in einen unheimlichen Umhang. „Lilly, es ist nicht normal, dass Sterbliche Magiesplitter sehen können." Er fuhr sich nervös durch seine längeren, schwarzen Haare und seufzte laut. Immer noch sah ich ihn voller Unverständnis an. Ich konnte ihm nicht folgen. Als er mein verwirrtes Gesicht sah, fuhr er fort.

„Magiesplitter entstehen nur dann, wenn mächtige Kräfte auf eine Person ausgeübt wurden. Sie umgeben den Körper und die Seele von Verstorbenen." Ich zwang mich, weiter zu atmen und steckte meine zitternden Hände in die Jackentaschen. Ich wusste, was das bedeutete. Mein Vater war tot, doch ich fühlte keine Reue, kein Mitgefühl für dieses Monstrum. Er war schon lange nicht mehr mein Vater. Es hatte geendet. All die Qualen und die Angst. Ich war frei. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Niemals wieder konnte er mich berühren, mir mutwillig wehtun und mich somit immer weiter zerstören. Es war vorbei. Ich atmete tief ein und eine Last fiel von mir ab, welche mich fast taumeln ließ. Ash sah zu mir, lächelte ganz leicht, so als würde er fühlen, was ich fühlte und fuhr mit seiner Erklärung fort.

„Die leuchtenden Splitter verschwinden erst, wenn ein Todesengel diese zusammenfügt und ins Jenseits bringt. Erst dann kann seine Seele Ruhe finden." Er sah mich an, ich konnte aufkeimenden Schmerz in seinen Augen sehen. Er versuchte mit einem leichten Lächeln auf seinen Lippen von seinem Schmerz abzulenken, doch mir konnte er nichts mehr vormachen. Was machte ihn an dieser Situation nur so zu schaffen? „Es war kein Sterblicher, welcher deinen Vater auf dem Gewissen hat." Seine Stimme klang merkwürdig leer und weit entfernt. Ich schritt langsam auf ihn zu, fast berührten wir uns. Er lächelte gequält auf und hob dann seine Hand um meine Wange zu berühren. „Du weißt gar nicht, wie kostbar du für mich bist." Seine Hand berührte mich federleicht an meiner Wange. Die Worte berührten etwas tief in mir. Alles fühlte sich still stehend an, als ob auch die Welt den Atem anhalten würde um die Schönheit und Anmut der eisigen aber klaren Winternacht zu bewundern.

Langsam schmiegte ich mich enger an seine Handfläche und wider Erwarten nahm er sie nicht von meinem Gesicht. Traurig sah er mich an.
„Ich dachte, ich könnte all dies von dir fern halten, ich dachte, ich könnte dir die Welt zeigen, welche du verdienst. Dir ein normales Leben schenken. Doch es war ein Fehler auch nur anzunehmen du hättest auch nur eine Chance auf ein normales Leben mit mir. Und nun stehe ich wieder vor dir und bitte dich erneut um Verzeihung." Er schnaubte verachtend. „Du kannst mich nicht vergraulen." Es tat mir Leid, dass er so dachte. Mein Leben hatte durch ihn bereits eine Wendung genommen welche ich nicht bereute. Ich war froh, dass wir uns kennenlernten. Da kam mir ein Gedanke. Woher wusste er so viel über die Dinge die passiert waren? Was machte ihn so sicher, dass es kein Mensch war, welcher meinen Erzeuger getötet hatte? Mein Herz schlug schneller, so als würde es spüren, dass ich einem weiteren Geheimnis von ihm auf der Spur war. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen.

„Woher weißt du das alles?" Interessiert und abwartend sah ich ihm tief in die Augen. In ihnen war so viel zu Lesen. Schmerz, Verzweiflung, Hass, Wut, Zorn. Er entzog sich mir und ging einen Schritt zurück. Innerlich hoffte ich, er würde meiner Frage nicht wieder ausweichen, sich vor mir verschließen. Mit der Antwort, welche er mir gab, hatte ich tief im Inneren gerechnet. Ein Teil von mir wusste, dass er nicht normal, nicht wie jeder andere, den ich kannte, war. Es aus seinem Mund zu hören, ließ sich meine Nackenhaare aufstellen, doch ich hatte endlich Gewissheit und es bedeutete mir enorm viel, dass er sich mir öffnete. Es bedeutete, dass er mir langsam vertraute. Und das war alles, was ich je wollte.

„Weil ich auch kein Mensch bin, Lilly."

Zwischen den WeltenWhere stories live. Discover now