46. Du!

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Ich weiß nicht, wie lange ich mich schon am Dach im dritten Stock, den Ort, an dem Ness wahrscheinlich hinter mein Geheimnis gekommen ist, verstecke. Die Sonne ist untergegangen und der Nachthimmel breitet sich schützend über mir aus.

Neben mir liegt die Perücke, die ich Ness gerade so aus der Hand reißen konnte. Das bodenlange Kleid habe ich hochgeschoben, sodass ich meine Füße über dem Dachrand baumeln lassen kann.

Meine Converse schaukeln rhythmisch von vorne nach hinten. Es ist beinahe ironisch, dass ich mich aus Angst zu stolpern, gegen Ballschuhe entschieden habe. Das Blut der Wunde auf meinen Knien ist getrocknet, doch der Schmerz des Sturzes sticht bei jeder Bewegung, die meine Beine machen.

Ich ignoriere ihn und schaukel unbeirrt weiter mit meinen Füßen über dem Abgrund. Ich verdiene den Schmerz. Er erinnert mich daran, wie dumm ich gewesen bin zu denken, ich könnte jemand anderes sein als die erbärmliche, kleine Lilly.

Und das sind die Konsequenzen, mit denen ich jetzt leben muss. Ness ist schlau genug gewesen, um eins und eins zusammen zuzählen und hat das geschafft, woran ich die letzten Monate gescheitert bin. Sie ist zugleich Henker für Alison und Richter für Lilly. Ihr Urteil lautet sozialer Tod.

Als Ness mir ihre abschließenden Worte zugeflüstert hat, habe ich endlich die Genugtuung gesehen, die ich zuvor vermisst habe. Ness hat ihren letzten Zug gemacht und das Spiel ist endlich vorbei. Ich bin schachmatt gesetzt worden, doch zumindest heißt es jetzt Game Over.

Leider beginnt am Montag ein neues Spiel. Mich erwartet eine ganze Schule, die meine Niederlage live mitbekommen hat und sich die Mäuler über mich zerreißt. Im schlimmsten Fall werde ich zur Zielscheibe Nummer eins und werde keinen Schritt ohne gemeinen Seitenhieb tun können.

Ich hätte Chris ignorieren und einfach von dieser beschissenen Bühne springen sollen. Dann hätte sich Alison blamiert, doch mein Geheimnis wäre sicher gewesen.

Jetzt wird Chris nie wieder ein Wort mit mir wechseln. Wenn wir uns am Flur über den Weg laufen, wird er mich ignorieren und bei dem Gedanken an Alison oder mich nichts als Ablehnung empfinden.

Ich höre eine quietschende Tür hinter mir. Die Fenstertür aufs Dach, welche ich nur angelehnt habe, öffnet sich.

Es interessiert mich nicht, wer mich beehrt. Sollte es Ness sein, die eine Raucherpause einlegt, bekomme ich einen Vorgeschmack auf Montag. Ist es ein Pärchen, das einen ruhigen Platz zum Rummachen sucht, verderbe ich ihnen gerne die Stimmung.

Ich höre die lauten Schritte des Unbekannten, die immer weiter auf mich zukommt. Kann man nicht sehen, dass ich alleine sein will?

Leider habe ich kein Glück. Die ominöse Gestalt setzt sich wortlos zu mir. Sie öffnet einen kleinen Erste-Hilfe-Koffer und holt Desinfektionsmittel und Wundsalbe hervor.

Ich wage einen flüchtigen Blick und entdecke Chris, welcher ernst meine Knie mustert.

Erschrocken zucke ich zusammen. Ich habe wirklich jeden erwartet, doch Chris zählte nicht dazu. Was macht er hier?

Wortlos beginnt er, die Schürfwunden mit dem Desinfektionsmittel zu reinigen. Das Mittel brennt auf meiner Haut und ich kann ein schmerzerfülltes Zischen nicht unterdrücken. Chris ignoriert mich und verteilt vorsichtig Wundsalbe, bevor er ein großes Pflaster über meine Wunde klebt.

»Hast du nichts zu sagen?«, fragt Chris mit Ärger in der Stimme.

Ich wende meinen Kopf ab, da Chris die Tränen in meinen Augen nicht sehen soll. Die letzte halbe Stunde habe ich so hart daran gearbeitet, einen Staudamm zu bauen und die Fassung zu bewahren. Doch Chris' Anwesenheit hat den Damm schneller zusammenbrechen lassen als ein Tsunami.

Me, my Lover and I ✔️Où les histoires vivent. Découvrez maintenant