Erinnerungen

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20 Jahre.  20 Jahre ist es her, dass mein Dad aus seinem Heimatdorf wegziehen musste, dem Dorf seiner Kindheit und Jugend. Seiner Heimat. Seitdem hat er sie nicht mehr gesehen. 20  lange Jahre. Wenn ich es so ausspreche, fühlt es sich bei Weitem nicht so elendig lang an, wie es in Wirklichkeit für meinen Dad war. 

Er erzählte mir oft über seine einstige Heimat und den schönen Erinnerungen daran, die nun alle seit beinahe zwei Jahrzehnten unter Wasser ruhten. Jedes mal wenn Dad darüber sprach, wie das Dorf  einer Talsperre weichen musste, beunruhigte mich der Schatten der sich über sein Antlitz legte.  Natürlich fand er die Speicherung von Wasser wichtig, aber er wollte es nie wahrhaben, dass ausgerechnet sein Heimatdorf dafür weichen musste. Auch wenn es für einen guten Zweck war. Er vermisste seine einstige Heimat dort.  Sehr sogar. Nach 20 Jahren war sie nur noch eine entfernte Erinnerung, die langsam anfing zu verblassen.

Leider wusste ich nicht, wie sich das anfühlt einen Ort zu vermissen, denn ich war es gewohnt, nicht lange an einem Ort zu bleiben.  Mal wohnten wir in Hamburg, dann wieder in Stuttgart. Für fünf Monate wohnten wir sogar sogar schonmal in Wien. Mal waren wir auf dem Land. Mal in der Stadt. Ich bin erst fünfzehn und habe schon zehn Umzüge miterlebt. Das hatte etwas mit Dads Job als Immobilienmakler zu tun. Und wahrscheinlich damit, dass er nie einen Ersatz für seine alte Heimat haben wollte.

Deswegen wunderte es mich nicht, als er eines Sonntags zu mir kam und mehr klarstellte als fragte, dass wir mit den Brückners nach Alzheina, so hieß sein einstiges Heimatdorf, fahren. Das Wasser sei aufgrund des übernatürlich heißen Sommers und dem geringen Niederschlag nur noch zu vereinzelten Tümpeln vorhanden und nun könne man die Überreste des einstigen Dorfes an den Ufern besichtigen. Ich habe ihn noch nie so aufgeregt gesehen wie an diesem Sonntagmorgen.  Und gestrahlt hat er seit langem auch nicht mehr so wie heute. Ich freute mich für ihn. Um ihm die Laune nicht zu verderben, willigte ich ein, mitzukommen. Natürlich unter der Bedingung ein Eis mit drei Kugeln zu bekommen, falls in der Nähe irgendwelche Eisläden wären. Es war ja schließlich mitten im Sommer.

Bisher habe ich nur alte Bilder von Alzheina im verstaubten Bilderbuch meines Vaters auf dem Dachboden  gesehen. Es würde also auch ein wenig aufregend für mich sein, diese Bilder endlich in real sehen zu können. Ich wusste zwar, dass von dem Dorf und der damaligen Umgebung nicht mehr viel übrig war, aber es war immerhin etwas. Dads Vergangenheit zu erkunden war für mich ein Abenteuer, das sich definitiv lohnte, erlebt zu werden.

Wir beide fuhren also von Plauen aus, wo wir zurzeit wohnten, Richtung der Talsperre. Auf dem Weg dorthin, standen am Straßenrand überall Schilder:

Alzlantis: Auf der Spur eines versunkenen Dorfes

1 Führung ca. 2h: 60€

1 Führung ca. 1h: 30€

Familienticket ganztags mit 10% Rabatt: 20€

War ja klar, dass sie wieder nur Geld machen wollten. Schnell verflog die Hoffnung meines Dads, die Besichtigungstour wäre nur für ehemalige Dorfbewohner gedacht. Der Griff ums Lenkrad wurde fester und ich saß eingeschüchtert von der plötzlichen Gereiztheit meines Vaters mäuschenstill auf dem Beifahrersitz.

Auf einer Anhöhe vor der Talsperre war der Parkplatzbereich. Die Brückners warteten dort bereits auf uns vor ihrem schwarzen Mazda. In Person waren die Brückners mein bester Freund Tony(und praktisch mein einziger Freund) und sein Vater, der mit meinem Vater(praktisch sein einziger Freund) eng befreundet ist. Beide haben hier früher in der selben Straße im Dorf gewohnt, dass nicht mehr existierte. Für sie war es die pure Erfüllung ihrer Nostalgieträume. Als ob sie nie weg wären, erinnerten sie sich genauestens an die Routen, die sie mit ihren Fahrrädern damals durch das Dorf gefahren sind, und zeichneten diese mit ihren Handbewegungen in der Luft nach.

ErinnerungenWhere stories live. Discover now