Wann hört man schon auf seine Brüder?

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Mitten in der Nacht liege ich auf dem Rücken auf meinem Bett, die Augen geschlossen, aber trotzdem kann ich nicht schlafen. Wenn ich die Augen schliesse, dann höre ich wieder das gehetzte Keuchen des unbekannten Anrufers. Es jagt mir höllische Angst ein. Ran und Rindou sind auf ihren Zimmern, das ist das erste Mal, seit ich aus Toman geworfen worden bin, dass ich wieder allein schlafen soll. Kann ich aber nicht, normalerweise halte ich mich mit Unmengen Kaffee wach oder nehme Schlaftabletten, dass ich überhaupt einschlafen kann. Jetzt wie eine nervige kleine Schwester zu Rindou ins Bett zu kriechen fühlt sich im Moment ganz schön schlecht an, weil ich meien Brüder in den letzten zwei Tagen schon genug Nerven und Zeit gekostet habe. Und das letzte, was ich wollen würde, ist, dass sie sich noch mehr Sorgen machen müssen. Seit Kazutoras Tod ist es mir andauernd schlecht gegangen und zusätzlich waren Ran und Rindou eine ganze Weile im Knast. Da ist es mir besonders schlimm gegangen und ich bin sehr oft schrecklich traurig gewesen, für Tage, fast schon Wochen. Jetzt wo Ran und Rindou zu Hause sind und Kazutoras Tod schon eine ganze Weile her ist, will ich nicht, dass noch irgendjemand von mir denken muss, dass ich emotional instabil bin.

Ran hat gesagt, dass ich nochmal bei Sanzu vorbeigehen soll, und ich kann nach noch einer weiteren Stunde immer noch nicht schlafen, als stehle ich mich mitten in der Nacht aus dem Haus davon. Den Weg zu Sanzus Keller finde ich ganz leicht wieder, ich habe eine Art fotografisches Gedächtnis und muss bei keiner Ecke zweimal überlegen, wo ich abbiegen soll. Die Tür zu Sanzus Keller steht offen. Ich weiss nicht ob ich anklopfen soll oder nicht, deshalb schleiche ich die Treppe hinab in Sanzus Keller. Sanzu ist wach. Er sitzt am Schreibtisch, die Lampe ist an und er werkelt mit zitternden Händen an irgendetwas. Er hat mich nicht gehört. "Hey", meine ich, Sanzu dreht sich nicht einmal um. "Was willst du?", brummt er. Er scheint müde zu sein. "Weiss nicht so richtig. Ran hat gesagt ich soll irgendwann nochmal vorbeikommen. Und eigentlich konnte ich bloss nicht einschlafen", gebe ich zu. Sanzu lässt die Hände sinken und dreht sich zu mir um. Seine Augen sind halb geschlossen und er sieht noch blasser aus als heute Morgen. All seine Bewegungen sehen aus als hätte ihn jemand in eine Schachtel Watte gepackt und er würde bei jeder noch so kleinen Bewegung auf Widerstand stossen. Sanzu blinzelt und der seltsame Ausdruck von vorhin ist aus seinem Gesicht verschwunden. "Und du bist nicht gekommen um mich auszurauben? Ich...hab nämlich grade...gar nichts...der Stoff ist auch alle...macht mich verrückt..." Der Tonfall, in dem er "nichts" sagt, hört sich so verzweifelt an, dass ich gleich wieder Mitleid bekomme. Sanzu sieht in diesem klitzekleinen Moment so kaputt und zerbrochen aus, dass ich mich einfach neben ihn auf einen freien Hocker setze und beschliesse einfach ein Bisschen für ihn da zu sein. "Hey, Sanzu...möchtest du darüber reden?", frage ich sanft. Sanzus Hände fangen wieder an zu zittern und er versteckt sie sofort vor mir. "Weiss nicht...glaub nicht...", flüstert er und schafft es endlich, mir in die Augen zu sehen. "Warum musst du auch so spät noch aufkreuzen?", wimmert Sanzu leise. Ich seufze. "Komm her", meine ich und breite meine Arme aus. Sanzus Augen glitzern verräterisch. "Mhm", macht er als er versucht die Tränen herunterzuschlucken, dann gibt er auf und lässt sich in meine Arme fallen.

"Kiki?", fragt Sanzu. "Ja?" "Hast du je schon mal aufgeben wollen? So richtig aufgeben? Alles hinwerfen und verschwinden wollen?" Ich schliesse die Augen und seufze. "Ja. Als Kazutora Hanemiya bei einem Gang-Fight vor einem Jahr ums Leben gekommen ist, da wollte ich nicht mehr. Also gar nicht mehr. Ran und Rindou waren nicht zu Hause sondern im Knast und ich ware völlig allein. Kazu... Kazu war mein ein und alles, neben Baji und Chifuyu mein allerbester Freund. Er hat viele Probleme gehabt, aber jetzt... Im Nachhinein hätte ich an diesem Tag bei ihm sein müssen, ihn verteidigen müssen. Und jetzt ist er weg." Sanzu schluckt und drückt mich beschützend an sich. "Du bist auch kaputt, hm?", flüstert er. "Nicht so wie du", gebe ich zu und schlucke schwer. "Würd's dir was ausmachen, wenn du hier bleiben würdest? Nur für eine Weile. Ich bin's leid, immer alleine zu sein", seufzt Sanzu und lehnt den Kopf an meine Schulter. Sanzu sieht so traurig aus, so verzweifelt, also sage ich bloss: "Kein Problem." Und ich rühre mich nicht von der Stelle. "Du hast diesen Typen sehr gemocht, den du verloren hast, nicht?", fragt Sanzu nach einer Weile. "Welchen von den vielen meinst du?", scherze ich und Sanzu gibt ein trauriges Lachen, fast schon nur ein Glucksen von sich. Irgendwie habe ich das gefühl, er versteht mich. Auch wenn meine Brüder wollen, dass ich mich von ihm fernhalte, weil er mit Drogen zu tun hat, Sanzu versteht meine Schmerzen und so kann ich seine auch verstehen. "Alle. Erzähl mir von allen, die du hast gehen lassen müssen, obwohl du das nicht gewollt hast." Ich streiche mir die Haare zurück und seufze gequält. Es wäre besser, wenn ich mir endlich einmal alles von der Seele sprechen könnte. Und Sanzu hört mir zu.

"Kazutora ist abgestochen worden. Mikey hat mich verraten. Baji darf nicht mehr mit mir sprechen, weil ich jetzt zu Tenjiku gehöre. Bei Chifuyu ist es dasselbe. Aber am allermeisten vermisse ich Kazutora. Weil ich ihn nie zurückkriegen werde", gebe ich zu. Sanzu schlingt beschützend die Arme um mich und vergräbt das Gesicht an meiner Schulter. "Ganz schön scheisse, was?" "Mhm", mache ich und schmiege mich an ihn. "Erhoff dir nicht zu viel von Tenjiku, Kiki", fängt Sanzu an, "das ist ein krimineller Haufen Leute. Keine Spur besser als die Manji-Gang. Wenn ich du wäre, dann würde ich auf Knien zurück zu Manjiro Sano kriechen und ihn anflehen, dich zurück in die Gang aufzunehmen. Tenjiku macht dich kaputt. Schau mich an." Sanzu spielt verträumt mit meinen Haaren. "Hast du dich noch nie gefragt woher die Haarfarbe kommt? Izana hat die gleiche. Und ich auch. Könnte ein Gendefekt sein oder eine unheilbare Krankheit." "Erzähl doch keinen Unsinn. Glaub mir, du denkst jetzt noch, dass du froh wärst zu sterben, doch ganz tief in dir drin willst du das nicht. Ich weiss das", stelle ich klar und nehme ihm meine Haarsträhne aus den Fingern. Irgendwann sind Sanzu und ich eingeschlafen. Wir haben so lange miteinander gesprochen, bis ihm vor Müdigkeit die Augen zugefallen sind und er sich an meiner Seite zusammengerollt hat. Bei Sanzu habe ich mich so verstanden gefühlt, dass ich auch eingedöst bin, ohne es wirklich mitzubekommen. Sein sanfter Atem und das stetige Surren in der Stromleitung haben mich müde gemacht.

Am nächsten Morgen verabscheide ich mich von Sanzu und verspreche bald wieder vorbeizukommen. Als ich leise die Haustür aufschliesse, stehen meine Brüder schon mit bösen Blicken und verschränkten Armen im Flur. Sie sehen verdammt sauer aus. "WO WARST DU?!", faucht Ran sofort, "WAS FÄLLT DIR EIN, DICH MITTEN IN DER NACHT DAVONZUSCHLEICHEN?!" Rindou steht einfach bloss da und starrt mich mit einem kalten Ausdruck in den Augen an. Er ist enttäuscht, genauso wie Ran. "Ich...", fange ich an, merke dann aber, dass eine Erklärung alles bloss noch schlimmer machen würde und klappe den Mund wieder zu. "Kiki. Sag uns wo du warst", fordert Rindou nach eine Weile des Schweigens. "Ich...i-ich...Ich war bei Sanzu", gebe ich zu und höre wie Ran scharf die Luft einsaugt. "Hattet ihr...hattest du mit ihm...?" "Nein. Nein, hatten wir nicht. Wir hatten gar nichts", stelle ich klar und Ran entspannt sich sofort wieder. "Was denkst du dir eigentlich, dich mitten in der Nacht davonzustehlen und zu einem Junkie in den Keller zu kriechen?", seufzt Rindou und fährt sich durch die Haare. "Weisst du was? Ist mir egal wo du hingehst, wenn du nichts mehr mit der Manji-Gang zu tun hast, dann kann mir das nur Recht sein. Aber wenn du weggehst, dann lass bitte einfach das nächste Mal eine kleine Notiz da. Oder schreib uns wo du bist. Wir haben uns Sorgen gemacht, Kleine", meint Ran und wuschelt mir über den Kopf. Rindou drückt mir einen Kuss auf die Stirn. "Pass einfach auf dich auf", meint er und zieht mich und Ran in eine Umarmung.

Haitani's Little SecretTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang