"Bruder, ich bin ehrlich –"

"Hast du mich gerade Bruder genannt?", unterbrach Yaz ihn und zog die Augenbrauen zusammen. Sie hatte das Gefühl, dass sie am Ende dieses Tages eine Falte zwischen den Augenbrauen haben würde, weil Kenan einfach war, wie er war.

Für einen kurzen Moment schien er nicht zu verstehen, was sie meinte, aber dann klickte es auch bei ihm und er senkte dramatisch den Kopf und verstellte seine Stimme ein wenig, bevor er antwortete.

"Verzeihen sie mir meinen Fehler, eure Hoheit. Bitte haben sie Gnade mit diesem armen Bürger, er hat eine stressige Arbeitswoche hinter sich und kann gerade kaum denken."

Auch Yaz lachte jetzt und schlug sanft gegen seinen Arm, damit er den Kopf wieder hob.

"Du musst jetzt auch nicht so übertreiben, Kenan."

"Sorry, Madame. Ich wollte sagen, dass ich dachte, wie könnten hier essen."

Yaz schaute nochmal durch das große Glas und drehte sich dann zu Kenan. Um ehrlich zu sein hatte sie sich zuvor gar keine Gedanken darüber gemacht, wo oder was genau die beiden essen würden, aber sie hätte niemals mit einem türksichen Familienrestaurant gerechnet. Nicht, weil sie das komisch fande, sondern weil sie noch nie zuvor in einem solchen Restaurant gegessen hatte.

Ihr Vater war kein sonderlich großer Fan von Restaurants, und wenn sie mal draußen essen gingen, dann reservierte er einen Tisch in französischen Restaurants, wo mindestens eine Person im Hintergrund ein Instrument spielte und die Mitarbeiter ihren Vater mit seinem Nachnamen ansprachen.

Restaurants wie diese, wo viele Familien auf engen Raum saßen, waren etwas, was er nicht sonderlich mochte, hatte er immer gesagt.

"Stimmt", sagte Kenan und nickte, als sie ihn weiterhin schweigend ansah. "Du gehst bestimmt nicht an solchen Orten essen, oder?"

Bis gerade eben hatte sie noch ein Lächeln auf den Lippen, aber die Art, wie er sie plötzlich mit einem verurteilenden Ton ansprach, machte sie traurig. Sie wusste, dass Menschen wegen ihren Eltern ein sehr verzerrtes Bild von ihr hatten, aber das jemand, der sie erst zum dritten Mal sah, direkt so etwas von ihr dachte, verletzte sie ein wenig.

"Das habe ich nie gesagt", sagte sie und machte extra einen großen Schritt vor Kenan, um hereinzutreten, bevor er etwas erwiedern konnte. Drinne waren die Tische bereits alle besetzt, aber der ältere Mann hinter dem Tresen begrüßte sie trotzdem lächelnd und fragte sie, was sie essen wollte.

Yaz sah hinter sich, um sicher zu gehen, dass Kenan auch rein gekommen war, und tatsächlich, ein paar Sekunden später stand er hinter ihr und reichte dem Mann die Hand. Die beiden unterhielten sich auf Albanisch, wenn sie nicht falsch hörte, dann zeigte Kenan auf sie und wechselte wieder zu deutsch.

"Diese Madama möchte gerne einen Pommdöner mit ganz viel Tsatsiki, und ich möchte einen Pommdöner ohne Soße, bitte", sagte er und lief zu dem Kühlschrank neben dem Tresen.

"Cola oder Fanta?", fragte er und schaute über seiner Schulter zu Yaz, die immer noch ein wenig verloren vor dem Tresen stand und sich fragend umsah.

"Sprite, bitte", antwortete sie schließlich und strich sich erneut die Haare aus dem Gesicht. Am liebsten würde sie sie wegstecken, aber das würde Aris ganze Mühe ruinieren, und das wollte sie nicht.

Sie fragte ihn nicht, wieso er einen Pommdöner für sie bestellt hatte, oder wieso er einfach Tsatsiki bestellt hatte, ohne sie zu fragen, stattdessen stand sie einfach ein wenig verunsichert hinter ihm und sah zu, wie er sich weiterhin mit dem älteren Mann unterhielt.

Die beiden hatten ein sehr entspanntes Verhältnis, bemerkte sie, denn obwohl sie nichts von dem Gespräch verstand, hörte sie den fröhlichen Ton heraus. Ab und zu lachte Kenan auch, und ihr fiel auf, dass er immer mit seiner Hand seinen Mund verdeckte, wenn er laut lachte.

dior sauvage | kenanحيث تعيش القصص. اكتشف الآن