Aber vor einigen Wochen wurde eine der leeren Wohnung an einen alten Mann vermietet, der scheinbar ein großes Problem damit hatte, dass Kenan und seine Freunde sich an paar Tagen der Woche dort trafen, denn seit er vor sieben Wochen dort eingezogen war, hatte er die Polizei – kaum zu glauben – ganze zwölf  Mal aufgrund von "Lärmbelästigung" und "kriminellen Machenschaften" angerufen.

Mittlerweile grüßte die Polizei Kenan schon mit seinem Namen, so oft hatten sie sich in den letzten Wochen gesehen, und jedes Mal verdrehten sie lachend  die Augen, wenn die Jungs ihnen höflich erklärten, dass sie nichts falsches machten, kommentierten "man kann es nicht jedem Recht machen" und wünschten ihnen einen schönen Abend.

Am Anfang war es ganz witzig, aber mit der Zeit wurde es immer nerviger und nachdem seine Freunde und er letzte Woche ermahnt wurden, dass sie einfach wo anders ihre Zeit verbringen sollen, damit der alte Mann nicht schon wieder anruft, bekamen sie alle eben Panik, als die Polizei heute Abend wieder gerufen wurde.

Und als der Mann auch noch aus seinem Fernster rief, dass er die Polizei gerufen hat, damit sie die Autos der Jugendlichen durchsuchen, rannten alle davon, denn spätestens wenn Luans' Auto durchsucht werden würde, wären alle in Schwierigkeiten.

Schließlich hatten sie versprochen, sich nicht mehr auf dem Parkplatz zu treffen, aber es gab eben keinen anderen so ruhigen Ort, wo die einfach quatschen konnten.

Eigentlich wollte die Gruppe sich im Stadtpark treffen, aber sobald es dunkel wurde, tauchten dort plötzlich merkwürdige Menschen auf, die die Jungs blöd anmachten.

Dann wollten sie auf dem Schulhof der alten Grundschule Basketball spielen, aber die Tore zum Schulhof waren bereits abgesperrt und als auch noch der Fußballplatz hinter der Gesamtschule von kleinen Kindern überflutet wurde, die eigentlich um diese Uhrzeit schlafen sollte, entschied die Gruppe sich, wieder zu dem üblichen Parkplatz zu gehen.

Und jetzt war er hier.

Kenan schnaufte erneut und drehte sich nach hinten, und wer hätte es gedacht, der Polizist war immer noch hinter ihm. Allmählich hatte er aber keine Energie mehr und wenn er nicht innerhalb von Sekunden eine Ecke findet, wo er sich verstecken kann, dann würde er wirklich umfallen.

"Ich hätte früher mit dem Rauchen aufhören sollen", dachte er sich. "Das ist deine Strafe, dass du nicht auf Anne gehört hast."

Kenan näherte sich immer mehr der kleinen Kreuzung am Ende der Straße und wenn er nicht irgendeine Lösung finden würde, dann wird er von den Autos abgebremst, die hier halten, weshalb sein Herz anfing, noch schneller zu schlagen,  als zuvor schon.

Das wars, er sollte einfach stehen bleiben und sich erschlagen geben. Immerhin war er unschuldig, er würde sich wahrscheinlich eine Standpauke anhören müssen, wieso er nicht von der Polizei wegrennen sollte, aber schlimmeres würde sicherlich nicht folgen.

"Bleib stehen", schrie er in seinem Kopf, aber sein Gehirn schien diesen Gedanken nicht an den Rest seines Körpers weiterzuleiten, denn obwohl er endlich eingesehen hatte, dass es kein Entkommen mehr gab und er stehenbleiben sollte, rannte er weiter.

Die Kreuzung war nur noch eine wenige Meter entfernt, und gerade als Kenan sich vor Erschöpfung auf den Boden werfen wollte, weil es keinen Ausweg mehr gab, sah er einen schwarzen Mercedes, der ungewöhnlich langsam die Straße runter fuhr. Für einen Augenblick fragte er sich, ob es vielleicht einer seiner Freunde sein könnte und versuchte, dass Kennzeichen zu erkennen, doch es war ein unbekanntes.

Er näherte sich immer mehr der Straße und sah sich ein letztes Mal um, um den Polizisten so nah wie noch nie zu sehen, bevor er etwas machte, was er niemals von sich selber gedacht hätte: mit seiner letzten Kraft sprang er vom Bürgersteig auf die Straße und eilte dem Auto hinterher, was nicht sonderlich schwer war, denn die Person hinter dem Lenkrad war ein unfassbar schlechter Fahrer, riss die Tür auf und warf sich auf den leeren Beifahrersitz, bevor er sich zum Fahrer drehte und schrie, dass er fahren soll.

Im selben Augenblick hielt er den Atem an. Der Fahrer war eigentlich die Fahrerin, ein junges Mädchen, die vielleicht eins oder zwei Jahre jünger war und ihn mit großen Augen anstarrte, bevor sie anfing, lauthals zu schreien.

"Fahr! Fahr!", schrie Kenan und drehte sich immer wieder nach hinten um zu sehen, wie weit der Polizist noch war, und merkte, dass er jeden Augenblick die Tür aufreißen wird, wenn das Mädchen nicht sofort schneller fährt.

Der Polizist rief etwas, aber Kenan konnte nicht verstehen, was, und einen Augenblick später bleib er für einige Sekunden stehen und stützte sich auf den Knien, bevor er sich wieder aufrappelte. Er war erschöpft und außer Puste, was Kenan einen Vorteil schaffte.

Das Mädchen hinter dem Lenkrad schrie weiterhin aber als Kenan noch weitere drei Mal brüllte, dass sie schneller fahren soll, hörte sie endlich und erhöhte das Tempo – sie hörte nicht für eine einzige Sekunde auf, panisch zu schreien, auch nicht, nachdem der Polizist schon lange nicht mehr zu sehen war und Kenan erleichtert aufatmen konnte.

Schnaufend wischte er sich den Schweiß von der Stirn und lehnte sich erleichtert im Sitz zurück, als er plötzlich hörte, wie das Mädchen neben ihm aufhörte, zu schreien und stattdessen nach ihrer Handtasche griff und sie mit einer geschwungenen Bewegung in sein Gesicht schleuderte.

Er riss die Augen wieder auf und hielt die Hand an seine Nase, die innerhalb von wenigen Sekunde anfing, wie wild zu pochen und sich anfühlte, als würde sie anfangen,  zu bluten.

"Aua?!", rief er laut und sah mit zusammengezogenen Augenbrauen zu dem Mädchen, die mindestens so erschrocken aussah, wenn nicht sogar noch erschrockenes als er, und trotzdem hinderte das sie nicht daran, erneut die Handtasche in sein Gesicht zu schleudern.

Diesmal traf sie sein Kiefer und er hob die Arme vor den Kopf um sich zu schützen, während er versuchte, ihre Hand zu packen.

"Mädchen! Guck auf die Straße, wir sterben gleich beide wegen dir!", schrie er atmete entsetzt aus, bevor er an seine Nase fasste, um sicherzugehen, ob sie blutete, und tatsächlich spürte er, wie Blut aus seiner Nase tropfte.

Seufzend schaute er auf seine Finger und dann zu dem Mädchen, die ihre Augen immer noch weit offen hatte und zwischen ihm und der Straße hin und her sah, bevor sie sich etwas beruhigte und schließlich ihren Mund öffnete.

"Wer bist du? Steig sofort aus meinem Auto!"

Sie schrie nicht mehr so hysterisch wie gerade, trotzdem war sie störend laut. Kenan kniff die Augen zusammen und atmete tief ein, bevor er sich zu ihr drehte und beruhigend die Hände hob.

"Ich schwöre, ich habe keine bösen Absichten! Bitte fahr noch ein bisschen, ich schwöre ich werde dir alles erklären, ich schwöre, aber bitte, fahr erstmal", erklärte er und versuchte aus ihren flüchtigen Blicken zu erkennen, was sie im Moment dachte.

Sie sah immer wieder zwischen ihm, der Straße und ihrer Handtasche hin und her, bevor sie etwas sagte, und als Kenan merkte, dass sie ihm sehr wahrscheinlich nochmal mit dieser verdammten Tasche in sein Gesicht schlagen will, versuchte er unauffällig die Hand nach der Tasche auszustrecken, während sie auf die Straße schaute.

Sie bog gerade in eine ruhige Seitenstraße in der kein anderes Auto fuhr, und gerade als er die Tasche hatte, bemerkte sie die minimale Bewegung und riss die Augen noch weiter auf, als zuvor schon, bevor sie die Tasche hob und rief: "Ich wusste doch, dass du ein Dieb bist!" und mit solch einer Wucht gegen sein Gesicht schlug, dass seine Nase wahrscheinlich brach.

Kenan presste beide Hände an die Nase und lehnte sich mit einem schmerzerfüllten Brüllen nach vorne, was auch ihr Angst machte.

Seine Nase pochte so sehr, dass ihm die Tränen in die Augen schossen und er nicht mehr klar sehen konnte, und als er auch nach einer ganzen Minute nicht den Kopf hob, bekam das Mädchen große Angst, dass er sein Bewusstsein verloren hatte.

Sie bremste scharf, um zu gucken, ob er noch am atmen war und merkte im selben Moment, dass sie ihn vielleicht hätte warnen sollen.

Denn im selben Augenblick, in dem sie bremste und sich zu ihm drehte, bemerkte sie, dass er sich nicht angeschnallt hatte und sah zu, wie er mit voller Wucht gegen das Armaturenbrett knallte und einen Augenblick später sein Bewusstsein verlor.

dior sauvage | kenanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt