Das gekaperte Herz (ONC 2024)

3 | Doppelter Verrat auf der Sturmwind

Einen kurzen Augenblick hatte die Wandlerin gezögert. Sie hatte sich fest vorgenommen, dieses Mal nicht zwischen die Fronten zu geraten. Doch nun war sie auf dem Weg zu dem Schiff, auf dem sich Darrel und Ronan einquartiert hatten.

Als die Sonne am Horizont auf die untere Seite der Scheibe wanderte, und den Tag gegen die Nacht tauschte, wurde es sofort merklich kälter unter Diyannes Flügeln. Zum Glück waren ihre Augen die Dunkelheit gewöhnt, war sie doch jahrelang als Haustier in einem dunklen Keller einer Vesthalie gefangen gewesen.

Das magische Halsband, dass sie an einer erneuten Verwandlung gehindert hatte, war sie erst bei der Befreiung durch Ronan und seine Freunde losgeworden. Er hatte sie gefunden, als sie erschöpft und ausgemergelt in der Gestalt eines roten Tigers auf dem harten kalten Fußboden des Kellers gelegen hatte. Er hatte sie gerettet. Und sie war ihm zu ewigem Dank verpflichtet.

Sie stand tief in seiner Schuld. Und doch war es Hannah gewesen, die sie bei sich aufgenommen hatte, als sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Die ihr wieder Mut, ein Zuhause und eine Perspektive gegeben hatte. Ihr verdankte sie den Willen, wieder leben zu wollen. Und da Diyanne mit beiden befreundet war, hielt sich das schlechte Gewissen, einen von ihnen auszuspionieren, in Grenzen.

Es dauerte nicht lange, die Insel zu überqueren und das Schiff von Darrel ausfindig zu machen. Diyannes Schwingen trugen sie im seichten Flug über den Hafen, in dem der prächtige Dreimaster lag. Die Sturmwind musste etwa ein Drittel größer sein als die Wavedancer, schätzte die Wandlerin, und um einiges schlanker. In einem Rennen auf Zeit würde Hannah keine Chance gegen das schnelle Schiff haben.

Die Wavedancer punktete jedoch mit ihrer Wendigkeit. Zwischen Klippen und in wilden Strömungen war ein langes Schiff quasi unbrauchbar. Und wenn sie den Schatz finden wollten, so würden sie vermutlich die Wavedancer brauchen. Deshalb hatte Diyanne sich auch sofort mit Hannah verbündet, als Darrel den Vorschlag gemacht hatte, auf einem Schiff gemeinsam zu fahren.

Aus einem ihr unbekannten Grund hatte Ronan sich auf die Seite von Darrel geschlagen. Eine Entscheidung, die sie bisher nicht nachvollziehen konnte, vermutete aber, dass es in diesem Fall von Vorteil war, ein schnelles Schiff zu besitzen. Oder einem ehemaligen Dieb die Führung zu überlassen. Denn immerhin kannte Ronan als einziger von ihnen die ganze Karte.

Während Diyanne sich allmählich auf die Höhe der Masten des Schiffes sinken ließ, erhellten sich in der Stadt langsam die Fassaden der höheren Gebäude, welche den Schein von Öllampen und Kerzen widerspiegelten. Im Hintergrund war bereits die Nacht hereingebrochen und der Frühmond erschien an der sternenbehangenen Himmelskuppel.

In einem eleganten Bogen umrundete der rote Vogel die Sturmwind und registrierte zufrieden, dass ein Fenster in der Kapitänskabine offen stand und noch keine Lampe angezündet worden war. Vorsichtig landete er auf dem Sims und verwandelte sich innerhalb von Sekunden wieder in einen Menschen.

»Wo hast du sie versteckt?«, murmelte die Rothaarige und suchte im Schreibtisch und in den Regalen nach einer Rolle oder einer Hülle, in die Ronan die Kartenstücke gelegt haben könnte. Doch so sehr sie sich auch bemühte; sie konnte nichts finden.

»Ach komm schon«, flüsterte sie energisch und band ihre rote Mähne zu einem Zopf zusammen, damit ihr die Haare nicht immer wieder ins Gesicht fielen. »Wo könnte die Karte denn noch sein?«, grübelte sie und sah sich in der Kabine noch einmal um. Plötzlich fiel ihr Blick auf ein Gemälde, welches ein Schiff im Sturm zeigte. Neugierig trat sie einen Schritt an das Bild heran und versuchte, im Dunkeln die Details zu erkennen.

»Das muss die Sturmwind sein«, stellte sie erstaunt fest, als sie die markante Galionsfigur wiedererkannte. Einer Eingebung folgend strich sie über die goldene Meerjungfrau am Bug des Schiffes, und ein leises Klicken verriet ihr, dass sich hinter dem Bild etwas bewegt hatte.