Mond

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Ich strich mir mit einer fähigen Bewegung eine Strähne aus dem Haar. Wieder war es so weit. Sie schlief einfach nicht. Wippend bewegte ich den Kinderwagen, in der Hoffnung, dass sie aufhörte zu schreien. Die Leute um mich herum schauten schon so komisch. Was kann ich dafür, wenn sie nicht einschlafen konnte? Natürlich habe ich versucht, sie zu beruhigen, verdammt noch mal! Aber ich war am Ende meiner Kräfte und der Bus kam einfach nicht. 

Ich sah nach oben. Der sternklare Himmel war kaum sichtbar, so hell strahlte das Licht der Großstadt. Ich seufzte. Wippte wieder den Kinderwagen. Strich ihr über die Wange, die gerötet war. Richtete die Decke, mit der sie zugedeckt war. 

Wieder sah ich nach oben. Suchte mit meinem Blick den Himmel ab. Doch der Mond war noch nicht sichtbar. Früher hatte es mir immer geholfen, in den Mond zu schauen, damit ich mich beruhigen konnte. So sehr wünschte ich das meiner Tochter auch. Doch sie hatte noch kein Blick dafür, war noch zu jung. Jetzt musste ich es für sie tun, mich beruhigen, damit ich sie beruhigen konnte.

Langsam schob ich den Kinderwagen etwas zur Seite, weg von der Haltestelle. Der Bus kam, die Leute stiegen ein und aus, doch ich hatte es plötzlich nicht mehr eilig. Noch immer den Kinderwagen wippend, lehnte ich mich an die Schaufensterkante. Sah nach oben. Seufzte. Sehnlichst wünschte ich mich wieder zurück nach Hause, wo ich mit meinem Vater abends auf dem Balkon gesessen habe, wenn ich nicht schlafen konnte, wir den Mond beobachteten und geredet hatten. Doch das war alles fort. Mein Zuhause, mein Vater und jetzt auch der Mond. 

Wieder fuhr ich mir mit einer Hand übers Gesicht. Sollte ich wirklich? Warum eigentlich nicht? Sie war abgestillt und ich hatte sie schon seit einigen Tagen in der Tasche unterhalb des Kinderwagens. 

Verstohlen sah ich mich um. Doch die Haltestelle war leer, keiner sah zu mir. Nur zwei Radfahrer kreuzten meinen Weg, doch sie nahmen von mir keine Notiz, hörten das jetzt leiser gewordene Quengeln von ihr nicht. Gut. Sie hatte sich langsam in den Schlaf geweint. 

Ich warf ein Blick in den Kinderwagen, nahm vorsichtig den Schnuller aus ihrem Gesicht, den sie wiederholte Male ausgespuckt hatte. Gleichzeitig griff ich in die Tasche. Zog zwei kleine Flaschen heraus. Mit bedacht - ich sah mich nochmal um - stellte ich die zwei Fläschchen in die Ecke des Schaufensters, legte den Schnuller daneben. 

Zögerlich öffnete ich die erste Flasche. Roch daran. Der Geruch war vertraut und doch so lange her, als ich ihn das letzte Mal wahrgenommen hatte. Gedankenverloren spielte ich mit dem Deckel. Rastlos glitt mein Blick über den Kinderwagen, zu der Haltestelle, zu den Autos, die an der Kreuzung stehen. Zum Himmel. Es klimperte und ich fluchte leise, als mir der Deckel herunterfiel. Mist. Jetzt war ich gezwungen, das Fläschchen zu trinken. 

Ruckartig hielt ich mir die Flasche vor die Nase, verharrte aber. Seufzte. Stieß an, richtete die Flasche zum Himmel. Auf dich, Mond. 

In einem Zuge leerte ich die Flasche und stellte sie zu der anderen. Der Inhalt brannte meine Kehle herunter und ich unterdrückte ein Husten. Bloß nicht das Kind wecken. Mit verschwommen Blick griff ich zur zweiten Flasche, schraubte vorsichtig den Deckel ab. Nahm diesen fest in die Hand, sodass es schon weh tat. Mittlerweile war das brennende Gefühl weg und eine angenehme Wärme breitete sich in mir aus. Das tat gut. 

Bei der zweiten Flasche zögerte ich nur, weil ich nicht wusste, auf wen ich trinken sollte. Auf mein altes Zuhause? Auf meinen Vater? Auf die Vergangenheit, die ich so stark vermisste? Ich wusste es nicht. Kurzerhand zuckte ich mit den Schultern, hob die Flasche zum Himmel. Auf alles. 

Diesmal brannte die Flüssigkeit nicht. Ich seufzte. Stellte sie daneben, ohne dass ich hinschaute. Der nächste Bus kam. Ich stieß mich von der Kante ab, hob die Hand, damit der Busfahrer wusste, dass ich mitwollte. Möglichst sachte bewegte ich den Kinderwagen, wollte sie nicht wecken. Als ich im Bus war, sah ich durch die Spiegelung der Fenster in den Himmel, doch der Mond war noch immer nicht da.


Ein Bild, eine Geschichte, drei Perspektiven, drei EmotionenWhere stories live. Discover now