.°• Kapitel 1 ★ ☄

62 6 0
                                    

°•2003

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.

.°•2003.°•

Es ist Freitag.
Ich bin wahrscheinlich die einzige Jugendliche, die keinen Wochentag mehr verabscheut als den Freitag. Während andere Schüler diesen Tag als den Beginn des Wochenende feiern, bedeutet es für mich eine Bürde. Denn seit meiner frühen Kindheit besuche ich am jeden Freitagnachmittag meinen Vater in der Psychiatrie.
Der Anblick des großen Gebäudekomplex mit seinen spitzen Schieferdächer verursacht bei mir jedes Mal aufs Neue eine Gänsehaut.
Efeu rankt sich an den alten Backsteinen empor. Es hat sich durch diese Jahreszeit rot gefärbt und steht in farbenfrohem Kontrast zu dem Grau des Herbsthimmels.
Jedes Mal, wenn ich vor der tannengrünen Eingangstür stehe, überkommt mich der Drang, der Klinik den Rücken zu kehren und nach Hause zu meinen Brüdern zu gehen. Doch ich weiß, daß es für mich Gewohnheit werden wird, wenn ich es auch nur einmal machen würde.
Die Verlockung ist zu groß und auf einen freien Nachmittag würde dann ein zweiter, ein Dritter und irgendwann wäre ich dann gar nicht mehr in der Lage wiederzukommen.
Doch das kann ich meinen Vater nicht antun.
Er hatte nur noch mich.
Und meine Brüder, doch diese haben ihn schon längst den Rücken zugekehrt, so wie ich es vielleicht auch tun sollte.
Doch ich bin das Einzige was unseren Vater noch mit der Realität verbindet. Ich bin der rote Faden, der ihn in dieser Welt hält und verhindert, das er völlig in den Wahnsinn abdriftet.

Die schwere Holztür gibt ein lautes Knarren von sich, als ich sie aufziehe. Das künstliche Licht der Deckenbeleuchtung flackert beim Eintreten. Der Geruch von Desinfektionsmittel steigt mir in die Nase, gemischt von den Holz und den feuchten Wänden. Eine ungewöhnliche Mischung, die mir jedoch mit der Zeit vertraut geworden ist.

Als die Tür hinter mir ins Schloss fällt und dabei ein lauter Knall durch das Haus hallt, zucke ich unwillkürlich zusammen, erfasst von der Angst, dass eines Tages der Zeitpunkt kommen würde, an dem sie sich für immer schließt und ich an diesem Ort genauso gefangen bin wie mein Vater.
Eine Hand berührt mich sanft an der Schulter und ich richte meinen Blick auf die Person, zu der sie gehört.
Emma.
Sie lächelt mir ermutigend zu. „Komm, dein Vater freut sich bestimmt schon auf dich. "
Obwohl sie leise spricht, hallt ihre Stimme von den hohen Wänden wider. In der Psychiatrie herrscht stets eine bedrohliche Stille. Vermutlich ist sie nicht mal wirklich beunruhigend, sondern ich empfinde sie nur so.

Emma hat mich auch schon früher schon manchmal begleitet, aber seit etwa einen Jahr ist es zu einer Regelmäßigkeit geworden. Die meisten Menschen empfinden Furcht, Neugier oder sogar Abscheu für eine Psychiatrie. Emma hingegen betritt diesen Ort nicht anders, als würde sie in die Wohnung eines alten Freundes eintreten.
„Dafür muss er erstmal wissen, welchen Tag wir überhaupt heute haben ", murre ich weniger begeistert.
Die Besuche  bei meinen Vater sind mit den letzten Jahren immer mehr zu einer Verpflichtung geworden, als dass ich irgendeinen Sinn in ihnen erkennen könnte. Als Kleinkind habe ich mich der Hoffnung hingegeben, dass der verwirrte Geist meines Vaters irgendwann geheilt werden könnte und er die Klinik verlassen kann um mit seinen Kindern wie eine gewöhnliche Familie zusammenzuleben. Doch mit 14 Jahren bin ich alt genug, um zu wissen, daß dies nicht mehr passieren wird.
„Für ihn ist jeder Tag gleich, da ist es schwer, die Übersicht zu behalten ", verteidigt Emma meinen Vater.
Sie ist nicht nur im Bezug meines Vaters einfühlsam, sondern findet für die meisten Menschen ein gutes Wort. Es ist mir ein Rätsel, woher sie ihren Optimismus nimmt, wo sie doch genau wie ich ohne richtige Eltern aufgewachsen ist.
Oft pflegt sie zu sagen :Immerhin hast du einen Vater,
wenn ich mich wieder über die Besuche bei ihn beschwere. Das holt mich tatsächlich auf den Boden der Tatsachen zurück und erinnert mich daran, daß ich dankbar für das haben sollte, was ich habe, selbst wenn es erschreckend wenig ist.
Schimmer als die Verpflichtung der Besuche sind jedoch das Gerede meiner Mitschüler, die niemals ein Blatt vor den Mund nehmen.
Mir ist es gelungen, die Grundschulzeit rumzubringen, ohne das irgendjemand von meinen Vater erfahren hat.
Doch als meine Brüder in eine Jugendanstalt landeten und ich für einige Zeit ins Heim musste, blieb das nicht lange unbemerkt. Seitdem tuscheln die anderen hinter meinen Rücken und meiden mich, als wäre eine Geisteskrankheit ansteckend.

.°•The Shadow Above Us°•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt