37. Blick in die Zukunft (ENDE)

Beginne am Anfang
                                    

Bedrückt nahm ich den Blick vom Spiegel und wandte mich zur Tür. Meine Fingerspitzen fühlten sich taub an, als ich die Türklinke runterdrückte.

Der Regen prasselte unnachgiebig hinab und hieß mich willkommen. Ich schluckte schwer, bevor ich ohne weiter drüber nachzudenken hinaustrat. Ich wusste, ich würde es nur weiter hinauszögern, je mehr ich drüber nachdenken würde - und das würde es im Endeffekt nur schwerer machen, als es ohnehin schon war.

Ich ließ die Tür hinter mir in den Schloss fallen. Qualvoll schloss ich die Augen, als hätte man mir ein Messer ins Herz gerammt.

Ich ging. Ich ging ohne ein Wort oder eine Erklärung. Mir war klar, dass Nathan mich für immer hassen würde. Er würde niemals wissen, aus welchen Grund ich gegangen war. Er würde denken, ich ging aus freien Stücken. Er würde denken, dass ich ihn verlassen hatte - so kurz vor der Hochzeit. Was würde es aus ihm machen? Würde er jemals wieder lieben oder vertrauen können?

Es zerbrach mir das Herz in Millionen Einzelteile. Ich wäre die Letzte gewesen, die ihm das antun wollte. Aber es gab keinen anderen Weg. Wie um Gottes Willen sollte ich ihm sagen, dass ich aus der Zukunft kam? Selbst wenn er mich nicht für verrückt halten würde und versuchen würde mir zu glauben, was würde es daran ändern, dass ich gehen musste? Er würde die Zeit nicht anhalten können. Er würde nichts ändern können. Stattdessen hätte ich ihn nur verwirrt und mit tausend Fragen im Kopf zurückgelassen, die ich selbst nicht beantworten konnte.

Wenn er glaubte, dass ich ihn verlassen hatte, würde er vielleicht nicht nach mir suchen. Wenn er dachte, ich wollte ihn nicht, würde er uns vielleicht abschließen können. Statt für immer darauf zu warten, dass ich vielleicht wieder zurückkehren würde - denn diese Wahrscheinlichkeit war einfach zu gering. Nicht einmal ich selbst konnte daran festhalten.

Mit schweren Herzen ging ich über den Kiesweg zum Tor und öffnete ihn, um auf die Straße hinauszutreten. Keine Menschenseele war um diese Uhrzeit und bei diesem Regen irgendwo zu sehen. Völlig allein stand ich da und stellte mich dem Sturm. Als würde es merken, dass ich bereit war, verdichteten sich die Wolken über mir und der Regen strömte auf mich hinab. Jeder Regentropfen, der auf meiner Haut landete, brannte sich förmlich in meine Seele hinein.

"Bist du soweit, Ella?"

Erschrocken drehte ich mich um. Rosalie stand mit einem Regenschirm in der Hand am Tor und sah mich mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen an.

Ich blinzelte die Tränen weg, die sich in meinen Augen gesammelt hatten. Ich wollte ihr keine Schwäche zeigen.

"Wieso bist du hier?", wollte ich wissen und hasste mich dafür, dass meine Stimme zitterte.

"Dieses Spektakel werde ich mir nicht entgehen lassen.", erwiderte sie kühl.

"Du kleines Miststück.", entwich es mir.

Sie grinste breiter und ging einen Schritt auf mich zu. "Das hast du dir selber zuzuschreiben, Ella. Ich habe überhaupt nichts getan. Du musstest ja unbedingt die Heldin spielen, statt unauffällig zu bleiben. Wir aus der Zukunft wissen alle mehr, als die aus der Vergangenheit - aber nur die Klugen wissen, wie sie dabei unentdeckt bleiben."

Ich lachte verbittert. "Du bist also einer der Klugen, ja?"

Sie sah mich unbeeindruckt an. "Im Gegensatz zu dir, habe ich mich schlau gemacht und mich mit dem Konzept der Zeit beschäftigt. Ich bin seit Jahren hier, hatte eine Menge Zeit mir Bücher über Physik und all den Kram durchzulesen. Ich weiß durchaus mehr, als du vermutest."

Ella - Die Stille nach dem SturmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt