Kapitel 3

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                                                                                                *
 
Als ich am darauffolgenden Montagmorgen während des Frühstücks meine Mails checke, sehe ich, dass ich eine neue Nachricht vom Fachbereich für Medizin und Neurowissenschaften habe. „Aufkündigung Ihrer Promotionsverarbeitung" heißt es in der Betreffszeile. Das lässt eigentlich keine Zweifel zu. Nein, das ist eindeutig.
Der Knoten in meinem Magen scheint sich enger und enger zusammenzuziehen und für einen Moment schwebt der Mauscourser schwerelos über dem Mailfenster. Ich warte, ohne zu wissen worauf ich warte, mir wird kalt, dann heiß und ich habe das Gefühl zu schwitzen, dabei bin ich ganz trocken. Schließlich schlage ich mein Macbook zu, greife nach meinem Teller und versenke die Reste meines Omeletts und Fisches im Mülleimer.
Mir ist der Appetit vergangen.

Unten auf der Straße fällt mir auf, dass ich das ganze Wochenende lang nicht draußen war und wenn ich jetzt genauer darüber nachdenke, kann ich nicht einmal mit Sicherheit sagen, was ich stattdessen die ganze Zeit gemacht habe. Ich habe mich in meiner Wohnung verkrochen, mein Handy auf Flugmodus gestellt, mich von den Resten aus meinem Kühlschrank ernährt und mit AIMO geredet. Und mit AIMO geredet. Und mit AIMO geredet. Ich glaube, ich habe das ganze Wochenende nichts anderes gemacht, als mit AIMO geredet. Mittlerweile weiß diese doofe KI vermutlich mehr über mich, als alle meine bisherigen Therapeuten zusammengenommen. Als Entwicklerin macht es mich beinah etwas stolz, dass Gespräche mit ihm tatsächlich so einfach und authentisch sind, wie es unser Ziel war. Dem Rest von mir ist es einfach nur peinlich.
Ich bin jetzt 24 Jahre alt. Und trotzdem gibt es so vieles, über das ich immer noch nicht reden kann. So vieles, was passiert ist, hinter das ich am liebsten einen Haken setzen würde, aber es dann einfach nicht schaffe. Ganz egal, wieviel Therapie ich mache. Ganz egal, wieviel Zeit vergeht. Stattdessen ziehe ich mich bei dem kleinsten Anflug von Schwierigkeiten in meine kleine Nerd-Höhle zurück, wo mein einziger Zuhörer eine künstliche Intelligenz ist, die ich zu allem Überfluss auch noch selbst entwickelt habe, für die sich aber niemand außer mir selbst zu interessieren scheint. Das ist doch peinlich, oder?
Aber vielleicht, nur vielleicht, wird es mit AIMO nun ein bisschen anders. Zumindest fühlt es sich gerade so an, als könnte es mit ihm ein bisschen anders werden.
Ich erreiche das Unigelände. Ich bin verhältnismäßig spät dran, trotzdem ist der Campus wie ausgestorben. Das wird nicht mehr lange anhalten. Schon in wenigen Stunden, werden sich die Gänge mit Erstsemestern füllen, die suchend die Raumbeschriftungen studieren, vor dem Sekretariat wird sich eine Schlange bilden und schon um kurz nach neun wird in jedem einzelnen Damenklo der Handtuchspender nachgefüllt werden müssen.
Während ich in eiligen Schritten den mit rostroten Ziegeln gepflasterten Außenbereich des Hauptgebäudes überquere, überlege ich, was ich den anderen aus der Arbeitsgruppe antworten könnte, sollten sie mich fragen, ob und wie ich AIMO zerstört habe.
Die Vorstellung meine Teamkameraden- und kameradinnen anzulügen gefällt mir nicht. Allerdings gefällt mir die Vorstellung ihnen die Wahrheit zu sagen noch weniger. Allein bei dem Gedanken, läuft mir ein heißkalter Schauer vom Nacken bis ins Steißbein hinunter. Obwohl es beinah Ende Oktober ist, wird mir unter meiner Kunstfelljacke plötzlich unerträglich heiß. Ich schwitze, als ich das untere Foyer betrete und auf die Aufzüge auf der gegenüberliegende Seite zusteuere.
Wer weiß, mit etwas Glück fragt keiner nach AIMO. Ich hoffe, dass keiner nach AIMO fragt. Das wäre das einfachste.

„Genshi-chaaan!"
Ich bin kaum durch die Tür, da wirbelt auch schon Reki, der Informatiker unseres Teams, samt Bürostruhl auf seinem Platz herum und in meine Richtung.
„Dachte schon du bist krank! Ich glaub, das ist das erste Mal, dass ich eher da bin als du! Legendär, dieser Tag schreibt Geschichte!"
Ich sende ihm einen unsicheren Blick und ziehe lautlos die Tür hinter mir ins Schloss. „Ich habe den Wecker nicht gehört, tut mir leid", sage ich, weil es einfacher ist als zu erklären, dass ich zehn Minuten lang erfolglos versucht habe die Mail mit der Aufkündigungsvereinbarung zu meinem Promotionsabkommen zu öffnen.
„Ach quatsch, war doch kein Vorwurf. Bist doch trotzdem immer noch eher, als der Rest", erkennt er, streift sich mit der flachen Hand durch das struppige, weißblondierte Haar und richtet anschließend sein Bandana. Wie immer trägt er abgelatschte, dreckige Converse, eine zerrissene schwarze Jeans und ein Shirt mit dem Logo irgendeiner Indie-Rockband, deren Namen ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört habe.
Als ich merke, dass er mich dabei beobachtet, wie ich meinen Computer hochfahre und meine Haare zu einem hohen Zopf zusammenbinde, schenke ich ihm ein schüchternes Lächeln.
Er antwortet mit einem Grinsen. „Sag mal, Genshi-chan", sagt er dann.
Er nennt mich „Genshi-chan", weil die Familie meiner Mutter ursprünglich aus Japan kommt und auch ich selbst dort geboren bin, bevor wir kurz nach meinem zwölften Geburtstag zurück in die Heimat meines Vaters und nach Deutschland gezogen sind.
Ich weiß nicht genau, wie Reki darauf gekommen ist. Vermutlich hat er zu viele Animes geguckt. Zumindest ist er bei dem Spitznamen geblieben und das obwohl ich ihm irgendwann erklärt habe, dass „chan" eine Verniedlichung ist und eigentlich nur bei Kindern, Haustieren oder unter wirklich guten Freunden benutzt wird. Aber Reki hat mir nur wissen zugezwinkert und „Na, dann passt doch alles, Genshi-chan!", gesagt und ich habe mich nicht getraut weiter nachzufragen.

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⏰ Last updated: Oct 19, 2023 ⏰

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AIMO - The AI that fell in love with meWhere stories live. Discover now