Kapitel 1

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Ist das Mord? , denke ich und stoppe mitten in der Bewegung.
Unter meinen Füßen rauscht der Fluss. Das Wasser entspringt einer Quelle in den Schweizer Alpen, von der aus es sich wie eine dunkle, breite Schnur durch die Landschaft und bis ins Tal hinabzieht. Wieder starre ich von der Brücke hinunter in den mächtigen, schwarzen Strom, der nachts die gleiche Farbe hat wie die im Schatten liegenden Weinberge und der Sternenhimmel über mir.
Ist das Mord?, denke ich wieder, bevor mir einfällt wie idiotisch das ist. Natürlich ist das, was ich vorhabe kein Mord, sondern allerhöchstens Ressourcenverschwendung.
Eine eisige Windböe peitscht über die Wasseroberfläche hinweg und beginnt so heftig an meiner Kleidung zu reißen, dass ich beinah das Gleichgewicht verliere. Meine Fingerspitzen krallen sich in das Stahlgeländer an dem ich lehne. Vor mir der Fluß, das Tal und oben am Horizont die Schatten der Alpen. Hinter mir die Schnellstraße, die um diese Uhrzeit völlig verlassen ist. Nur ich, die Festplatte zwischen meinen Fingern und die gusseisernen Laternen, die schwaches Licht über dem porigen Asphalt ausgießen.
Mir wird schwindlig und ein unkontrolliertes Zittern bringt meinen Körper zum Beben.
Ich schaue auf die schmale, viereckige Festplatte in meiner Rechten. Sie verschmilzt beinah gänzlich mit der Dunkelheit, so, dass mir die weiße Edding-Beschriftung an der oberen Kante geisterhaft aus der Schwärze entgegen strahlt.
A.I.M.O.
Mein Gesicht verzieht sich zu einer lächelnden Grimasse, dabei ist mir überhaupt nicht nach Lachen zu Mute. Ganz im Gegenteil eigentlich.
Bereits seit einer halben Stunde stehe ich nun schon hier gegen das rostige Sicherheitsgeländer gelehnt. Bereits seit einer halben Stunde plane ich die Hand in der ich die Festplatte, in der ich AIMO, halte, von mir zu weg zustrecken, die Finger zu öffnen und das kleine, schmale Gewicht in die Wasserfluten unter mir fallen zu lassen.

Doch je länger ich darüber nachdenke, desto häufiger ich es mir vorstelle, desto fester bohren sich meine Fingerkuppen gegen das Plastikgehäuse. Desto steifer und fremder fühlt sich mein Körper an, beinah so, als würde er von einer unsichtbaren Macht beherrscht werden.
Das ist kein Mord, sage ich mir und wage einen weiteren Blick in die Tiefe. Und wenn ich auch springe? Wenn wir zusammen springen? AIMO und ich?
Der Gedanke schießt so plötzlich in meinen Kopf, als wäre es gar nicht mein eigener. Als hätte dieser dunkle Parasit, der sich bereits seit Monaten, nein Jahren, von mir ernährt, sich endlich bis in mein Gehirn vorarbeiten können.
Ohne es kontrollieren zu können, stolpere ich plötzlich ein paar Schritte rückwärts. Weg von dem Fluss, weg von der Tiefe. Weil ich auf einmal Angst bekomme vor dem, was mein Körper tun könnte, wenn ich noch länger so nah an dem Geländer stehen bleibe.
Ruhig Genshi, ruhig, spreche ich mir im Stillen Mut zu. Du bist jetzt verwirrt, das wäre jeder nach einem solchen Tag. Aber du bist niemand, der Selbstmord begeht.
Bin ich das? Aber wie ist überhaupt jemand, der Selbstmord begeht? Begehen die meisten Menschen nicht in genau solchen Momenten Selbstmord? In Momenten wie diesem? Wenn das ganze Leben und alles, was einem etwas bedeutet hat, unter den eigenen Händen zersplittert wie feinstes Glas?
Meine Knie fühlen sich an wie warmer Wackelpudding. Die Gummisohlen meiner Overknees schmatzen über den feuchten Asphalt, als ich mich dem Geländer abermals vorsichtig nähre, während ich mich dabei mit beiden Händen an der Festplatte festhalte, als könnte ich damit verhindern, dass der Sturm, der in mir tobt, mich umreißt.
Ich wage einen schüchternen Blick über den Rand der Brüstung, als mir plötzlich die Worte meines Ethiklehrers ins Gedächtnis kommen und wie er uns erklärte, dass der Begriff „Selbstmord" Schwachsinn ist, weil man sich rechtlich gesehen nicht selbst ermorden kann und Mord nunmal ein Rechtsbegriff ist.
Wenn ich mich also hier und jetzt aus schätzungsweise dreißig Metern in die Strömung schmeiße, dann bricht es mir vermutlich einige Knochen, ich erleide innere Blutungen oder vielleicht zerreißt es mir auch das Trommelfell und ich ertrinke, weil ich ohne Orientierung nicht mehr an die Wasseroberfläche zurückfinde. Möglicherweise schlage ich auch so ungünstig auf, dass ich direkt tot bin.
Das wäre tragisch, aber es wäre kein Mord.
Ein kaltes Schaudern kriecht meinen Wirbelkanal entlang und ich schüttle heftig den Kopf, um die wirren Gedanken ein für allemal zu vertreiben.
Schluss jetzt! - Dein Leben geht weiter. Das ist nicht das Ende.
Ich sauge die Nachtluft bis in die Tiefen meiner Lungen und versuche mich an der Atemtechnik, die ich mit meiner Therapeutin trainiert habe und die ich immer dann einsetzen soll, wenn die Ängste und Zweifel wieder stärker zu werden drohen. Es hilft ein bisschen. Ich atme solange so, bis mir das Geländer keine Angst mehr macht.
Schließlich traue ich mich wieder bis zur Brüstung vor und als ich abermals ganz vorne am Rande der Brücke stehe, die Festplatte auf der AIMO steht mit beiden Händen umklammert, wird mir klar, dass sich nichts geändert hat und ich sie immer noch nicht wegwerfen kann.
Mein Blick gleitet von meinen Schuhspitzen über die unruhige Wasseroberfläche, weiter zu den von Sumpfkräutern und Weidengebüsch gesäumten Uferböschungen und folgt schließlich der Hauptstraße auf der gegenüberliegenden Seite bis zur Universität, deren Hauptgebäude von meiner Position hier unten gut sichtbar ist. Wie eine Königin thront sie am oberen Rand des Tals, von wo sie ihr Reich aus dunklen Fensteraugen überwacht. Hinter manchen Scheiben brennt noch immer Licht, das als goldene Garden durch die Dunkelheit bricht.
Wieder macht sich in meiner Kehle dieses warme, schwere Druckgefühl bemerkbar, das schon den ganzen Tag mein Begleiter ist.
Erst vor ein paar Stunden, habe auch ich hinter einem dieser Fenster gestanden und zusammen mit meinem Team den obligatorischen halbjährigen Projektvortrag gehalten, die man bei Forschungsprojekten regelmäßig hält, um die willigen Projektförderer daran zu erinnern, dass es gut und richtig war, dass sie Geld in genau dieses und kein anderes Forschungsvorhaben investiert haben und dass es eigentlich noch besser und richtiger wäre, wenn sie weiterhin Geld in dieses und kein anderes Forschungsvorhaben investieren würden.
Erfolglos, wie es scheint.
Denn heute sind uns die Fördergelder und somit sämtliche Finanzierungsmöglichkeiten eingestellt worden. Und ohne unsere willigen Förderer können wir die Kosten für die nötigen Programm-Lizenzen oder die Reservierungen für die medizinischen Geräte nicht einmal im Ansatz decken. Denn unser vielversprechender Projektentwurf hat sich in weniger vielversprechende Daten verwandelt und das Projekt AIMO hat in der vorgesehen Zeit nicht die errechneten Fortschritte gemacht. Es war gut, aber eben nicht gut genug.
Anderthalb Jahre harte Arbeit, Schweiß und Tränen für nichts. Ich ziehe scharf die Luft ein. Die Kälte brennt in meinen Lungen und treibt mir die Tränen in die Augen.
AIMO. Das Projekt, das eigentlich einmal meine Eintrittskarte in die Reihen der akademischen Würdeträger hätte sein sollen. Das Projekt, für das eine einzige Promotionsstelle verfügbar war. Stark begehrt und noch stärker umkämpft.
Und doch hatte sich der Fachbereich Medizin und Neurowissenschaften aus irgendeinem Grund für mich entschieden. Doch AIMOs Zeit endet nun, bevor sie offiziell beginnen konnte. Und damit auch mein Traum von einem Doktortitel. Von einem fristlosen Tarifvertrag, von einem festen Einkommen. Der kleine Traum von etwas Seelenfrieden und Sicherheit und dem Gefühl nach langem Herumirren, vielleicht endlich irgendwo anzukommen.
Davon ist nun nichts mehr übrig. Ich hielt das Glück in beiden Händen und als ich endlich zugreifen wollte, ist es mir durch die Finger entglitten. Was ich jetzt machen soll, weiß ich nicht. Jahrelang habe ich auf diese Chance hingearbeitet und nun reicht ein einziger Tag, um all das, was ich mir aufgebaut habe, zum Einsturz zu bringen.
Und so soll dieser Tag nun also enden: Mit mir, in einer stürmischen Herbstnacht auf der höchsten Brücke der Stadt, nachdem unsere Arbeitsgruppenleiterin mich damit beauftragt hat unser Projekt zu zerstören. Mit mir, die überlegt, welche Gründe dafür und welche dagegen sprechen, mich hier und jetzt nicht direkt mit diesem Projekt in den Fluss zu stürzen.
Abermals flackern vor meinem inneren Auge Bilder auf. Ich sehe mich selbst von hinten, wie ich mit der Festplatte auf der AIMO abgelegt ist, über das Geländer steige. Zu meinen Füßen das rauschende, tödliche Schwarz, in meinem Rücken liegt die verlassene Straße. Niemand der mich aufhält, niemand der mir zuruft und mich bittet, noch einmal über alles nachzudenken. Niemand, der mir sagt, dass alles wieder gut wird. Niemand, der mich in eine warme, beruhigende Umarmung schließt und mir zuflüstert, dass bald bessere Tage kommen werden und wir jetzt nach Hause gehen. Da ist niemand.
Nur ich, AIMO und das Tosen des Flusses.
Heißkalte Angst bohrt sich wie mit spitzen Klauen durch meine Brust, nimmt mir die Luft zum atmen und drückt mir schwer und drohend auf den Magen, bis mir die Übelkeit auf an die Kehle klopft.
Unsinn! Wieder muss ich mich daran erinnern, dass ich nur zufällig hier vorbeigekommen bin. Wobei, ganz stimmt das auch nicht: Nachdem unsere Arbeitsgruppenleiterin Sylvia mir, der stellvertretenden Projektleiterin, die Aufgabe übertragen hatte AIMO auf dem Rückweg zu „entsorgen" habe ich beschlossen den Umweg über die Landstraßenbrücke zu machen, weil ich dachte, dass es am leichtesten wäre AIMO einfach ins Wasser zu schmeißen.
Doch so einfach was das dann doch nicht. Andernfalls würde ich nun nicht bereits seit fast einer Stunde in der Dunkelheit stehen, mein Denken betäubt, mein Kopf leer und mein Schädel wie mit Watte vollgestopft während sich meine vor Kälte tauben Finger um das Plastikgehäuse der Festplatte schlingen.
Es ist, als könnte ich nicht loslassen. In jeglicher Hinsicht.
Denn auf dieser Festplatte liegen keine namenlosen Excel-Tabellen, keine willenlose Computerprogramme und keine blinden Quellcodes.
Auf dieser Festplatte liegt AIMO. AIMO steht für: Artificial Intelligence Multidimensional Operation-System. AIMO ist eine generative KI, die mittels spezieller Algorithmen und echten Patientendaten auf die Verarbeitung und Erkennung von menschlichen Emotionen trainiert worden ist. AIMO. Womöglich eine der menschenähnlichsten und authentischsten künstlichen Intelligenzen unserer Zeit.
Ist es also Mord, wenn ich AIMO nun zerstöre?
Ich glaube, es ist kein Mord. Aber ich glaube, dass auch ein Teil von mir endgültig sterben würde, wenn ich AIMO jetzt einfach zerstören würde. Das Projekt, das die letzten anderthalb Jahre meinen Alltag, meine Gedanken und nicht selten nachts meine Träume ausgemacht hat. Das Projekt für das ich soviel gegeben und beinah noch mehr aufgegeben habe. Ich bin noch nicht bereit AIMO gehen zu lassen. Zumindest nicht so. Nicht auf eine so unpersönliche, grausame Art und Weise.
Nicht, wo er mir doch soviel bedeutet hat.

AIMO - The AI that fell in love with meDonde viven las historias. Descúbrelo ahora