Kapitel I - Wiener Blut

52 14 8
                                    

Theo ließ sich, in dem Wissen, dass er es das letzte Mal tun würde, in den gemütlichen Papasansessel seines Therapeuten sinken – jenen Sessel, in den er sich in den letzten zwei Jahren beinahe jeden Dienstag und Samstag niedergelassen hatte.

Während er auf den Doktor wartete, holte er sein Hermès Portemonnaie aus seiner Hosentasche, öffnete es und zog ein Bild heraus. Es zeigte eine Familie, die eng beieinander vor einem pompösen Anwesen posierte.

Links auf dem Bild stand ein Mann, der Macht und Kontrolle ausstrahlte. Er war in einem Anzug mit körpernaher Silhouette gekleidet – die Schultern leicht gepolstert, die Ärmel auf die perfekte Länge zugeschnitten.

Seine rechte Hand ließ er nonchalant in die Tasche seines Anzugs hängen und auf seiner linken Schulter lag subtil die Hand seiner Frau.

Die Dame zu seiner linken trug ein tailliertes Etuikleid, eine Hochsteckfrisur und ihr Make-up verwendete sie zurückhaltend.

Ihren selbstbewussten Blick wandte sie direkt der Kamera, und somit dem Betrachter des Bildes zu.

Das Einzige, was nicht so recht in die Kulisse passte, war der Junge, der vor den beiden Erwachsenen – nicht mittig vor ihnen, aber leicht versetzt in Richtung der Frau – stand.

Das Kind, 12 Jahre alt, trug einen Pullover, darunter ein Hemd und eine dunkle Hose. Es lächelte, wirkte glücklich und gleichzeitig neugierig. Es stellte einen lebhaften Kontrast zu seinen Eltern dar.

Theo betrachtete das Bild, wünschte sich in diese Zeit zurück – die Fotografie bildete ihn mit seinen Eltern ab.

Aus dem lebensfrohen Kind hatte sich ein junger, attraktiver Mann entwickelt. Er hatte dunkles, mittellanges Haar und tiefbraune Augen. Der Junge war athletisch und hatte ein markantes, symmetrisches Gesicht, klare Haut und volle Lippen.

Auch wusste er, wie man selbstbewusst auftrat, sich verteidigte oder seine Widersacher in jeglicher Form vernichtete. Nicht aber, wie man seine Gedanken und Gefühle äußerte. Und auch, wenn er stets die Kontrolle zu haben schien, tobte in ihm ein ständiger Kampf.

Er war mit den Gedanken abgedriftet, als sich die Türe des Raumes öffnete.

»Hey, Theo!«, begrüßte ihn der eintretende Therapeut, Diplom-Psychologe Dr. Fischer.

Theo erwiderte die Begrüßung mit einem formellen »Grüß Gott!« und stand auf, um dem etwas rundlichen und beträchtlich kleineren Herrn die Hand zu reichen. Dr. Fischer legte seine Unterlagen auf den gläsernen Beistelltisch neben seinem Ohrensessel ab und schüttelte Theo mit einem freundlichen Lächeln die Hand.

Der Mann zog ein ledernes Etui aus der Brusttasche seines rot-braun karierten Hemds und holte eine filigrane Nickelbrille heraus, die er auf die Spitze seiner Knubbelnase setzte.

Der Psychologe setzte sich und überschlug seine Beine. Er betrachtete seinen Patienten einen kurzen Moment und atmete noch einmal subtil ein und aus.

»Du hast in den letzten zwei Jahren sehr viel durchgemacht, Theo – der Autounfall, der Aufenthalt im Krankenhaus, die Beerdigung deiner Eltern, das Vormundschaftsverfahren, die Adoption durch deine Tante und deinen Onkel sowie dein Umzug zu ihnen. Das sind traumatische Erfahrungen, die schwer zu verarbeiten sind.«

»Meine Familie hat mir sehr geholfen.«

»In solchen Zeiten sind familiäre Bindungen und Unterstützung von großer Bedeutung«, stimmte Dr. Fischer zu, »aber du hast ganz allein gelernt, auf dich selbst zu achten und deine eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren. Du musstest so viele Verluste erleiden – niemand kann erwarten, dass das spurlos an dir vorübergeht. Aber du hast in kurzer Zeit enorme Fortschritte gemacht«, fuhr Dr. Fischer fort. »Du hast gezeigt, dass du dich selbst gut kennst und weißt, wie du auf dich selbst aufpassen kannst.« Er senkte seine Stimme: »Darauf kannst du sehr stolz sein.«

HelenaWhere stories live. Discover now