Jack schätzte ich auf Mitte dreißig und er strahlte etwas Positives, Motivierendes aus. Kurz rief er den drei anderen Schülern zu, sie sollen doch ihre Übungen machen, weil das mit mir noch dauern könnte. Dann bat er mich, mich auf den Stuhl zu setzen, der neben seinem an der Wand stand. Ich nahm Platz auf der wenig gemütlichen Sitzgelegenheit und musterte ihn auffordernd.

"Also, wie ist dein Name?", lautete seine erste Frage. Na das würde ich wohl noch hinbekommen. "Ich heiße Raven Torsney", antwortete ich ihm knapp und formell. Er fuhr fort: "Deswegen warst du dir auch so sicher, dass du eine Mutatia bist..." Man kannte die Torsneys in Dragoneye. Mein Urururgroßvater hatte das Königtum abgeschafft.

Mein Stolz darauf hielt sich in Grenzen, da es erstens nicht mein Verdienst war und es zweitens in Glaciaras nicht funktioniert hatte, aber es war doch besser, wegen so etwas berühmt zu sein als wegen etwas Negativem.

"Es soll ja neuerdings nur noch Vögel bei den Torsneys geben?", hakte er nach. Ich nickte und sah auf meine Hände. "Allerdings. Mein Vater ist ein Ocitero und meine Mutter hat einen Schwan als Spiegel." Spiegel, zweite Gestalt, Seelentier... Es hatte viele Namen, aber ich bevorzugte Spiegel. Denn das Tier spiegelte dich wieder, auch wenn es nur ein Trugbild war. Du warst immer noch der Mensch vor dem Spiegel.

Jack murmelte: "Das ist sehr interessant..." Dann wurde es kurz still zwischen uns. Nach einer Zeit blickte er auf und redete weiter: "Naja, wie dem auch sei. Du hast ziemlich klare, dunkelgraue Augen und schwarzes, federnähnliches Haar. Das deutet auf einen Raben oder eine Krähe hin." Ach, das hatte ich aber auch nicht gewusst... Kam er dann mal zum Punkt?

Ich nickte, wobei ich nicht wusste, ob ich es gut oder schlecht fand, dass man mir meine Genervtheit deutlich ansah. Wenn mich jemand langweilte, dann zeigte ich es auch. Ich sprach nicht gerne mehr als nötig. Der Lehrer fragte mich: "Wie würdest du dich denn selbst beschreiben?"

Oh. Wunder Punkt. Erstens konnte ich das nicht. Zweitens war ich innerlich irgendwie eingebildet. Ich würde es nie übers Herz bringen, gute Eigenschaften zu nennen, weil sich das so arrogant anhörte. Andererseits, was auch wieder arrogant war, wusste ich ganz genau, dass ich viele gute Eigenschaften hatte. Am Ende kam ich zu einem Entschluss, einem innerlichen Kompromiss.

"Ich zweifle viel und denke viel nach." Sehr gut gemacht. Mein arrogantes Ego lobte sich für diese neutrale Beschreibung meiner selbst. Aber es war ein kluger Schachzug von mir gewesen, fand ich. Naja, vielleicht sollte mein Inneres einmal von seinem hohen Ross herunterkommen. Auch wenn mich hier "drin" sowieso niemand sah. Oder hörte.

"Aha..." Anscheinend reichte das Jack nicht, was mich leicht säuerlich stimmte. Er redete einfach weiter: "Du scheinst doch Dera und Rose zu kennen. Oder?" Ich nickte ihm wieder genervt zu. All das hatte mich bis jetzt kein Stück weiter gebracht, als ich es ohnehin schon war. Er bat meine beiden Freundinnen her und sie sollten mich beschreiben.

Nachdem Dera "Raven ist normal und hat sarkastischen Humor" gesagt hatte, ging sie wieder. Pff. Hyperaktive Katze. Rose dagegen brachte viel sinnvollere Argumente. Sie redete extrem wenig. Aber wenn sie etwas sagte, dann regte es immer zum Nachdenken an. Sie war fast das genaue Gegenteil von Dera: Schüchtern und introvertiert.

"Unauffällig, flexibel, misstrauisch, wählerisch, klug. Überdenkt alle Eventualitäten. Still." Dann schloss sich ihr Mund. Vermutlich wieder für Stunden. Auch sie ging wieder. Jack nickte. "Das ist interessant. Klug deutet eher auf einen Raben hin. Und wenn du nicht viel redest... Krähen schreien viel, aber Raben eher weniger. Vermutlich bist du doch ein Rabe."

Jack faltete die Hände und legte sie in seinen Schoß. "Ist dir in letzter Zeit irgendetwas besonderes passiert? Irgendwelche Auffälligkeiten?" Ich dachte nach. War mir irgendetwas besonderes passiert? Nicht dass ich wüsste. Ich war an der Academy angekommen, hatte eine freundschaftliche Begegnung gemacht, war im Lesen eingeschlafen, hatte meine Brille verlegt...

Warte mal! Brille verlegt... Und ich sah trotzdem etwas. Alle Alarmglocken schienen aufzuschrillen, als es mir klar wurde. Ich sah glasklar, und das ohne Brille oder Kontaktlinsen. Mein ewiger Traum schien erhört zu werden. Stotternd teilte ich es Jack mit. "Psst, Raven, ganz ruhig." Seine Ruhe machte mich nur noch unruhiger.

"Das ist unüblich für eine Mutatia. Aber alle Instinctos, die früher Brillen getragen haben, brauchten sie nach dem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr..." Er grübelte. Was? Oh... Was wäre wenn... Die Optionen und Eventualitäten, wie Rose es ausdrücken würden, überschlugen sich nun nicht gerade. Es gab nur zwei Möglichkeiten.

Möglichkeit Nummer eins: Sehr ungewöhnliche Gestaltenwandlerin. Möglichkeit Nummer zwei: Äußerst gewöhnliche Getarnte in einer Famile voller Gestaltenwandler. Ich schluckte. Das würde... Möglichkeit zwei würde beinahe die Familienehre beschmutzen! Unseren Stammbaum konnte man ewig zurückverfolgen, und noch keine einzige Torsney war etwas anderes als eine Gestaltenwandlerin gewesen. Und ich?

Mein Herz klopfte. Ich verstand nicht, wie Jack so ruhig bleiben konnte... Naja, eigentlich doch. Immerhin war so etwas alltäglich. Dass man eine andere Art hatte als erwartet. Aber nun mal verdammt noch mal nicht für die Torsneys!

Jack meinte: "Deine Augen sind dunkel und unergründlich. Üblich bei den meisten Instinctos, genauso wie eher dunkle Haare. Helle Haut, aber nicht weiß. Ganz leichter Stich ins olivfarbene. Sie sehen gut. Das trifft alles zu, Raven." Er lächelte mich freundlich an, als biete er mir gerade einen Keks an. "Außerdem hören sie gut. Raven, hörst du gut?"

Ich konnte jeden Vogel draußen verstehen, wenn ich wollte. Und das wusste ich genau.

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