»SKY
Manchmal freute ich mich, dass ich bald aus dem Kinderheim ziehen durfte, mir eine eigene Wohnung mieten und dort ein eigenes Leben führen, mir einen schönen Beruf suchen und vielleicht irgendwann mal ein Haus bauen. Mein sechzehnter Geburtstag war nämlich heute. Und jeder Geburtstag war ein großer Schritt zu auf den Weg hier raus.
Adoption wäre auch eine Möglichkeit gewesen - allerdings hatte ich es mir ein ganz klein wenig verspielt, aber dafür konnte ich nichts. Leute über zwölf bekamen selten ein richtiges Zuhause. Hatte man einmal ein gewisses Alter erreicht, wollte dich niemand adoptieren. Es klang hart, aber es war so.
Aber ich wollte gar nicht adoptiert werden. Viel lieber behielt ich meine Freiheit. Wir hatten ein paar Aufseher, ja, aber eigentlich durfte ich das Haus von sieben Uhr morgens bis zehn abends wann und so lange verlassen, wie ich wollte. Wichtig war nur, dass ich zum Abendessen erschien. Und ich war nicht viel tatsächlich im Heim.
Eigentlich ging ich meistens in den Wald. Ich wusste, es klang seltsam. Die meisten Kinder wollten lieber in die Stadt gehen, sich von ihrem wenigen Ersparten ein Eis kaufen oder so etwas. Ich hingegen zog es vor, eins mit der Natur zu werden, was meine Freizeit betraf.
Ich arbeitete nämlich auch. Neben der Schule arbeitete ich als private Nachhilfelehrerin für Französisch und Englisch, da ich diese beiden Fächer sehr gut beherrschte. Eigentlich wurde ich recht gut bezahlt und bekam eine beträchtliche Menge Geld zusammen. Andere Leute meines Alters konnten sich noch ein Scheibchen von mir abschneiden, denn es gab kaum jemanden, der arbeitete. Außer dem Jungen, der die Zeitungen austrug.
Und hier im Wald fühlte ich mich frei. Ich konnte entspannen. Wenn ich auf einen Baum kletterte und mich in die Astgabel setzte. Vielleicht war ich nicht ganz normal, aber wer war das schon? Was erwartete man denn auch anderes von einem Kind, das sein Leben im Kinderheim verbracht hatte.
Denn so war es. Ich war nicht einmal ein Jahr alt, als mich irgendein Arzt zu dem Kinderheim gebracht hatte, der erzählte, er hätte mich am Straßenrand gefunden, ein armseliger Ausbund an Hilflosigkeit. So erzählte man es mir jedenfalls. Doch das glaubte ich ihnen schon früher nicht. Die Wahrheit war eine andere. Meine Eltern ...es konnte doch nicht so gewesen sein, dass meine Eltern mich nicht gewollt hatten.
Und ich behielt recht. Ich hatte vor etwa einem Jahr jenen Arzt aufgesucht, der mich ins Kinderheim gebracht hatte. Er war nicht mehr ganz richtig im Kopf, aber er hatte mir erzählt, dass meine Eltern zwei ausgesprochen liebevolle Personen waren und er sich nicht vorstellen konnte, dass sie mich nicht gewollt hätten. Er sagte, er wisse den Grund für meine Abgabe selbst nicht.
Auf jeden Fall waren die beiden kurz darauf spurlos verschwunden. Es war frustrierend. Ich fand überhaupt nichts über sie. Nicht im Internet auf meinem Handy, das ich mir teuer erspart hatte. Nicht in der Bibliothek. Niemand konnte mir weiterhelfen. Niemand kannte meine Eltern. Ich hatte nur den Doktor. Und er hatte mir versichert, dass meine Eltern endlos viele Tränen geweint hatte, als sie mich abgegeben hatten. Und sich Sorgen gemacht.
Irgendwann begann es, mir komisch vorzukommen, und ich fragte den Arzt einige Fragen. Manche schienen ihn sehr zu verstören. Ich konnte es aber auch verstehen - ich würde bestimmt auch so werden, wenn auf einmal zwei Bekannte mit einem Baby vor meiner Tür stünden und in Tränen ausbrechen, ich solle es doch bitte in Sicherheit bringen und sie danach starben. Und sie hatten es schon vorher gewusst.
Aber vielleicht waren sie gar nicht tot. Andererseits ...wo sollten sie sonst sein? Unter der Erde oder was? Man konnte nicht für beinahe sechzehn Jahre spurlos verschwinden. Das erschien mir irgendwie nur sehr schwer möglich. Die Welt war klein. Im heutigen Zeitalter konnte man nicht einfach "untertauchen". Die Satelliten im Weltraum fanden dich irgendwann. Oder so.
Aber wenigstens wusste ich, dass sie mich liebten. Denn der Arzt hatte mir mitgeteilt, dass seine Eltern ihm das Versprechen gegeben hatten, wenn ich ihn jemals fände, dürfe er mir etwas überreichen. Und dieses etwas hatte ich nun seit fast einem Jahr um meinen Hals hängen. Eine goldene Kette mit einem Anhänger, der aussah wie ein goldener Drache. Dazu sagte er, sie hätten ihm die Kette mit den Worten "Pass gut auf die kleine Sky auf, bis sie in Sicherheit ist" gegeben.
Aber ich musste mein Schweigegelübde beim Arzt abgeben. Kein Wort durfte ich über meine wahre Herkunft verlieren. Irgendwie glaubte ich, dass er mehr wusste, als er zugab. Und das ließ mich nicht los. Genauso, wie mich der Wald nicht losließ. Immer wieder zog es mich hierhin.
Wie auch heute. An meinem sechzehnten Geburtstag. Ich liebte diesen einen Baum ganz besonders. Der breite Ast hatte eine Form, in die mein Körper fast genau reinpasste, und meinen Kopf konnte ich da ablegen, wo der Ast sich teilte. Manchmal lag ich stundenlang so da. Einfach so. Lauschte den Vögeln. Manchmal hörte ich Flugzeuge fliegen. Manchmal raschelte der Wind durch die Bäume. Und manchmal waren meine Gedanken am lautesten.
Genau das war heute der Fall. Ich kam mir so seltsam vor. Geburtstage wurden bei uns nicht sonderlich groß gefeiert. Manche wussten ihren Geburtstag nicht mal. Ich schon. Der Doktor hatte gewusst, wann mein Geburtstag war. Den Leuten vom Kinderheim durfte ich das natürlich nicht sagen - sie würden bestimmt Verdacht schöpfen, wenn ich wusste, wann ich sechzehn wurde.
Auch ich feierte meinen "ersten richtigen Geburtstag" nicht so wirklich. Ich war mir dem bewusst, dass Geburtstage etwas sinnloses war, zumal ich weder wirkliche Freund noch eine Familie hatte, die mit mir feierten. Das war zwar traurig, aber wahr. Ich wünschte mir schon immer Anschluss. Aber irgendwie sonderte ich mich immer von den anderen ab. Wie als wäre ich ...anders.
Klar war ich anders. Aber jeder war anders. Nur dachten die Leute, ich wäre ...tja, was dachten die Leute eigentlich von mir? Ich wusste es gar nicht. Und legte auch nicht viel Wert darauf. So würde nun niemals jemand mit mir einen Geburtstag feiern.
Ich wusste, dass dies erst mein erster richtiger, bewusster Geburtstag war. Aber er fühlte sich besonders an. Ich hatte so ein Kribbeln in den Fingerspitzen... Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Seltsam. Einerseits wie Euphorie, wie aufsprudelnde Kohlensäure in mir. Andererseits beißend, drängend, zerreißend. Dieses Gefühl war neu für mich. Ich hatte es noch nie verspürt.
Als würde ich am liebsten ganz tief in den Wald laufen und nie wieder herauskommen. Oder auf den Rücken eines Adlers steigen und durch die Lüfte gleiten. Hach ja, das wäre schön.
Aber leider lag beides viel zu weit entfernt. Ich war am Ende doch nur eine normale Teenagerin, die im Waisenhaus lebte und leider ihre Eltern verloren hatte. Ihre äußerst mysteriösen Eltern...
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Celestial
FantasyEine Schule voller seltsamer, übernatürlicher Wesen, in einer Welt, die der von den Menschen gleicht - doch das nur auf den ersten Blick. Raven und Sky scheinen wortwörtlich in zwei verschiedenen Welten zu leben. Die realistisch denkende, durchschn...
