Kapitel 1

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Tränen tropften auf den Schreibtisch und blieben auf dem Holz liegen. Immer mehr und immer mehr. Ich konnte einfach nicht mehr. Wie schaffen das manche Menschen einfach? Wie gehen sie durch das Leben ohne jedes Mal zusammenzubrechen? Wahrscheinlich sind das entweder diejenigen, die das in ihrem Leben niemals hatten sehen müssen oder diese, die es zu oft gesehen haben und die es einfach nicht mehr kümmert. Ich wäre auch gerne so. Stark. Scheinbar war ich nicht für Stärke gemacht.

Ich ließ meinen Kopf auf den nassen Schreibtisch fallen und starrte ins Nichts. Würde es jemanden interessieren, wenn ich einfach...verschwand? Nicht mehr da war? Ich glaube nicht. Nicht, dass ich aktiv etwas an diesem umstand ändern würde, aber es macht mich einfach so schrecklich fertig. Der Gedanke einfach zu sterben hat etwas Schönes an sich, aber es ist die Mühe nicht wert. Beziehungsweise bin ich einfach zu faul aufzustehen. Außerdem habe ich Angst vor den Schmerzen, die damit zusammenhängen. Wenn ich sterbe, dann ehrhaft auf einem Schlachtfeld mit dutzenden von Leichen, die zu meinen Füßen liegen. Ich–

»Dia? Bist du da drin?« Ich schreckte aus meinen Gedanken raus. 

»Wer ist da?«, rief ich. Es klang nicht nach Linnie, aber sonst suchte mich normalerweise keiner hier auf. 

»Ich bin's, Amy, kannst du bitte die Türe aufmachen!« 

Auf die hatte ich jetzt erst recht keine Lust, aber so wie es die Höflichkeit von mir wollte schlurfte ich zur Tür, überdeckte mein verheultes Gesicht mit einer einfachen Illusion und machte die Tür breit lächelnd auf. 

»Ich habe dich gar nicht erwartet. Kann ich dir helfen?«

Sie starrte kurz auf ihre Schuhe, dann rutschte ihr Blick zu mir. Manchmal war ich einfach nur stinksauer auf die Welt, dass sie mich so gemacht hat. Ich war nicht klein, es gab kleinere, aber mehr als die Hälfte war einfach viel zu groß, also musste ich auch zu Idioten wie Amy hochschauen.

»Mai-Lin, Paula, Saskia, Sophia und ich treffen uns gleich im Schlossgarten. Mai hat noch was zu tun, aber sie meinte ich solle vorbeikommen und fragen, ob du mitkommen möchtest.« 

Mein falsches Lächeln bröckelte und ein echtes schien durch. Linnie und ihre Art die ganze Zeit zu wissen, was bei mir abgeht. Scheiß-sechster-Sinn...

»Natürlich. Ich ziehe mir nur noch schnell etwas anderes an. Es ist wohl etwas unpassend in Samt im Gras rumzuliegen, nicht?«, antwortete ich grinsend. Amy lachte und verabschiedete sich mit einem »Bis gleich!« von mir.

Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte ging ich zu meinem Kleiderschrank, um zu schauen, was ich zum anziehen hatte. Eigentlich machte ich nur die Türen auf und griff nach meinem Lieblingskleid aus einfachem rot-gefärbtem Baumwollstoff, das mit bis zur Mitte der Waden fiel und an der Taille mit einem Stoffgürtel enger geschnürt war. Eigentlich war es bodenlang und langärmelig, so wie alle Kleider, aber ich hatte es mir abschneiden und neu schneidern lassen. Erstens waren die Temperaturen hier viel zu warm für langärmelige Kleider und zweitens hatte mir niemand etwas vorzuschreiben.

Aus Prinzip trug ich keine wertvollen Stoffe einfach so. Diese teuren Kleider sahen zwar extrem schön aus und standen mir auch hervorragend, aber sie waren einfach nur sperrig und störten beim Laufen sehr. Außerdem wurden sie immer viel zu gerne dreckig. Immer die Sachen, die man sich aufheben und schön behalten wollte, wurden dreckig, deshalb hob ich sie mir für feierliche Anlässe auf.

Apropos feierliche Anlässe...der teure Briefumschlag mit dem blutroten Wachssiegel, der ungeöffnet auf meinem Schreibtisch lag, verhieß nichts Gutes. Das Siegel brüllte mir schon fast ins Gesicht, dass wenn ich das Öffnen noch weiter hinauszögerte, es ernsthafte Konsequenzen geben würde. 

ImmortalityWhere stories live. Discover now