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Er atmete ein. Dann atmete er wieder aus. Alle zwei Schritte auf der Hülle entlang. Routiniert, genau wie bei seiner Arbeit, fokussierte er seinen Blick auf sein Ziel. Ignorierte den Rest der Welt um sich herum. Ignorierte, wie Pangaea alle paar Sekunden am Rande seines Blickfelds auftauchte, wenn sich der Ring einmal um den Kern gedreht hatte. Ignorierte selbst die Übelkeit, die diese unnatürliche Bewegung auslösen konnte, genauso, wie die in seinem Inneren.

»Ich bin so stolz auf dich«, drang Melanies schwache Stimme an sein Ohr. Sie navigierte ihn. Ihr vertraute er. Der Rest konnte ihm gestohlen bleiben.

»Machst du dir Sorgen, dass ich das verbocke?«

»Nein. Du bist jemand, der nicht aufgibt, auch wenn andere bereits ihre Hoffnung verloren hätten. Noch acht Meter.«

»Danke.«

Es war jedes Mal sonderbar, wenn sich ein Stiefel seines Raumanzugs und die Hülle anzogen. Er spürte den Sog des Magneten, dann den Aufprall und erwartete denselben dumpfen Ton, den er aus dem Inneren gewohnt war. Doch da war kein Raum für Töne im Vakuum. Uns so stapfte er lautlos auf den winzigen Riss zu, der sie beinahe das Leben gekostet hatte.

Der Reparaturlaser lag fest in seiner Hand, das Metall glomm auf und in wenigen Sekunden hatte er den Job erledigt, den Phil vergeigt hatte. Was hatte den an dem Tag bloß geritten? War er so scharf darauf gewesen, sich das Wurmloch anzusehen, das ihn für die nächsten dreißig Tage sowieso umgeben hätte?

»Ich habe den Riss repariert«, gab er durch.

»Gute Arbeit«, antwortete Yuko.

»Verschwinden Sie aus der Leitung. Ich will mit Melanie allein sein.«

Ein Knacken signalisierte, wie der Commander seinen Wunsch respektierte.

»Wow«, hauchte Melanie in ihr Mikrofon. »Wirst du jetzt vom schüchternen Zoologen zum schlagfertigen Helden?«

Jack lachte. »Sicher. Heute ist mein Durchbruch.« Er hob seinen Blick von der geflickten Hülle hinauf ins All, wo er für ein paar Sekunden über den blaugrünen Planeten glitt. »Hey, ohne dich hätte ich heute niemanden gerettet. Und ... wir schaffen auch den Rest, okay? Da unten gibt es Medikamente. Oder wir tauschen sie mit den anderen Ringen. Alles wird wieder –«

Ein Schlag ließ die Hülle erzittern und Jack verschluckte den Rest seines Satzes.

»Was war das?«, fragte er stattdessen.

Die Hülle, die er gerade repariert hatte, wölbte sich nach außen und er machte drei hastige Schritte zurück. Die Beule wuchs, die geschweißte Linie platzte wieder auf, Teile der inneren Schichten pressten sich nach draußen. Isolierung, Hardware, Panzerplatten. Und darunter ... etwas hellbraun Gesprenkeltes, das ihm sehr bekannt vorkam.

Zwei riesige Fühler lugten für einen Moment aus dem Riss, zogen sich ruckartig zurück. Die waren so groß gewesen, wie er selbst. Hatte er sich das eingebildet? Der Bereich um den Riss blähte sich weiter auf. Das war auf alle Fälle real. Jack taumelte davon, immer weiter. Er wollte nicht in der Nähe sein, wenn die Hülle brach.

Weit genug entfernt drehte er sich um. Der gigantische Panzer der Schnecke presste sich durch die Öffnung, verdrängte Metall, Hardware und Kabel.

»Dieses Loch werde ich nicht einfach so schweißen können«, murmelte er. Dann vertrieb die Hoffnungslosigkeit die Ironie. Verdammt, jetzt würde ihr Ring garantiert nicht starten können. Sie würden hier oben bleiben. Gestrandet, kraftlos, vom Rest der Besatzung aufgegeben.

Am anderen Ende des Raumschiffs schob sich bereits der erste Ring vom Kern. Kappte die Verbindungsgänge und wurde von seinen Schubdüsen nicht mehr im Kreis bewegt, sondern auf den Planeten zu. Der Ring musste intakt sein. Erst, wenn er die Atmosphäre durchstoßen hatte, konnten die Segmente gefahrlos ihren Weg zu den Basiscamps antreten, ohne beim Eintritt selbst zu verglühen.

Das Vakuum riss das Schneckenhaus aus der Umarmung der Hülle und es schoss dem Planeten entgegen, gefolgt von Schrott ... und Körpern. Hilflos sah er mit an, wie sie mit den Armen wedelten, bis ihre Bewegungen erstarben. Hätte er sie retten können, wenn er Yuko gewarnt hätte oder Melanie.

»Melanie?«

Keine Antwort.

»Yuko?«

Der Funk blieb stumm.

Ein Wohnsegment segelte aus der Öffnung. Wie groß war die Schnecke, dass es ebenfalls hindurchpasste? Wie war sie so groß geworden? Das war Exemplar 744, keine Frage. Die Schnecke, die er im Labor vergessen hatte, bei der er sich sicher gewesen war, dass sie den Tag des Eintritts in das Wurmloch nicht überleben würde. Sie hatte überlebt. Sie war mutiert. Dank der Strahlung? Das verdammte Loch lag offenbar genau über seinem vergessenen Labor. Oder war die rote Erde schuld? Er ... wahrscheinlich würde er es nie erfahren.

Ein ganzer Schwarm Segmente schwebte nun rund um den Ring davon. Manche von ihnen auf Pangaea zu. Sie waren herausgerissen worden, vielleicht war es auch Yukos Notfallplan, der darauf hoffte, dass einige heil ankamen.

Tränen stiegen ihm in die Augen. Weil sie ihn zurückließen? Weil sie alle sterben würden? Weil er Melanie nie wieder sehen würde, egal, was passierte? Er wusste es nicht. Die Gedanken und Gefühle vermischten sich in Kopf und Herz. Als Pangaea wieder in seinem Blickfeld auftauchte, löste er die Magnete und stieß sich ab. Der Schnecke hinterher. Ein Impuls, den er vielleicht bereuen würde. Aber nicht lange.

»Tag 145«, murmelte er, »und ich bin der verrückteste zoologische Assistent, den dieses Universum je gesehen hat.«

Er wusste nicht, ob diese Aussage übertrieben war. Ganz sicher war sie aber von tiefstem Selbstmitleid geprägt – und Wahnsinn. Das Monster, das er mit seiner Unaufmerksamkeit geschaffen hatte, hatte gerade die gesamte Population seines Rings getötet. Nun, bis auf ihn selbst. Und wie lange er noch durchhielt, wussten nur die Götter.

ENDE

Der Tag,  an dem die Schnecke fliegen lernteWhere stories live. Discover now