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Zaghaft streckten sich zwei winzige Fühler unter der gesprenkelten hellbraunen Schale hervor.

Jack, der über seinen Notizen brütete, bekam das nur aus den Augenwinkeln heraus mit. Aber das reichte bereits, um seine volle Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er schnappte sich den Rekorder, stieß sich mit den Füßen ab und bugsierte sich und seinen Stuhl direkt vor das Terrarium.

»Tag 117 an Bord der Nostromo und zum ersten Mal traut sich Exemplar 744 aus ihrem Ha...«

Exemplar 744 zog die Fühler wieder ein, bis sie komplett im Schneckenhaus verschwunden waren. Jack ließ den Aufnahmeknopf los und seinen Satz unvollendet. Ja, das war seine Schuld gewesen. Er hatte sie mit seiner übertriebenen Freude vertrieben.

»Tag 117«, murmelte er, »und ich bin der mieseste zoologische Assistent, den dieses Universum je gesehen hat.«

Und diese Aussage war noch nicht einmal übertrieben oder von tiefstem Selbstmitleid geprägt. Sie war nüchtern und spiegelte einfach nur die Tatsache wieder, dass er es ganz allein geschafft hatte, auf ihrer Reise die gesamte Schneckenpopulation sterben zu lassen – nun, bis auf diese Letzte. Und wie lange die noch durchhielt, wussten nur die Götter.

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und starrte an die Decke. Er konnte es ihr nicht übelnehmen. Sie war nicht anders als er selbst. Versteckte sich hier mit seiner Arbeit, statt mit den Kollegen seiner Sektion auf den Gängen der Ankunft am Wurmloch entgegenzufiebern. Aber so war er nun mal. Zu viele Menschen machten ihn unruhig. Wenn er sich endlich zu einer Konversation durchrang, dann unter Garantie mit den falschen Worten. Und bei den Witzen? Da lachte er an der falschen Stelle. Nicht, weil er keinen Humor besaß, einfach nur, weil er so verdammt nervös war.

Die Tür des Labors glitt zischend auf und Jack zuckte zusammen.

»Keine Sorge«, sagte eine melodische Stimme. »Ich bin es nur. Ich habe dir etwas mitgebracht.«

Nur? Nein, nicht einfach nur irgendwer. Das war Melanie, die mit ihm und ein paar anderen zur Bio-Sektion 23 gehörte und ... wohl der Hauptgrund war, warum er dort draußen nervös geworden wäre. Kastanienbraune, schulterlange Locken rahmten ihr Gesicht ein, die hypnotisierend grünen Augen und ihre lächelnden Lippen, mit denen sie die Worte sagte, die das Herz eines jeden Biologen hätten höher schlagen lassen: »Ich habe hier eine Tüte Dreck für dich.«

»Ah. Ja?« Sein Herz schlug tatsächlich schneller ... nur waren das nicht unbedingt die Worte gewesen, die er erwartet hatte.

»Habe ich den Jungs aus Geo-Sektion 3 geklaut. Echte, rote Erde von Pangaea. Von der allerersten Expedition.«

»Danke. Das ist sehr aufmerksam von dir«, sagte er höflich. »Was soll ich damit?«

»Sieh es als letzte gute Tat deiner Schnecke gegenüber. Die Reise durch das Wurmloch dauert nochmal knapp einen Monat. Ich will ihren Tod ja nicht herbeireden, aber ...«

Jack seufzte »Ja, ich weiß, ich weiß. Ich mache mir da selbst keine Illusionen. Danke. Es ist wirklich aufmerksam von dir.«

So würde Exemplar 744 noch vor ihm den Boden der neuen Welt betreten und dort sehr wahrscheinlich auch seine letzte Ruhestätte finden.

Melanie hantierte mit einer Hand an den Knöpfen herum, bis sich eine Glasplatte mit einem satten Ploppen vom Rest des Terrariums löste und nach oben schwang. Sie zog den Zipper der Tüte auf und verteilte die Erde gleichmäßig um die Schnecke herum. Sogleich waren die Fühler wieder da und Jack wusste wirklich nicht, ob er sich nun darüber ärgern sollte, dass Melanie einen besseren Draht zu ihr hatte oder sich gemeinsam mit ihr über die rote Erde freuen.

Der Tag,  an dem die Schnecke fliegen lernteWhere stories live. Discover now