Was kein Auge je gesehen

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Ich kann Eleanor schon fluchen hören, bevor ich die Tür richtig geöffnet habe: „Wie kann man nur so dumm sein?"

Sie sitzt an ihrem Schreibtisch, vor sich einen Stapel Hausarbeiten, wie immer um diese Uhrzeit. Selbst jetzt geht Eleanor noch ihren Pflichten aus der Menschenwelt nach, hält an ihren Gewohnheiten fest, als hätte es nie eine Entführung gegeben. Routine, erinnere ich mich, Eleanors schärfste Waffe gegen das Chaos. Ihr Füller kratzt aggressiv über das Papier, als sie eine Antwort durchstreicht, begleitet von einem Stirnrunzeln.

„Mit Füller immer nur in eine Richtung durchstreichen, Priora", bemerke ich, weil ich weiß wie sehr sie die Anredeimmer noch triggert und setze mich auf den Stuhl gegenüber. „Das lernt man schon in der Grundschule."

Eleanor schnaubt. „Wenn das der intellektuelle Nachwuchs Englands ist, dann gute Nacht." Sie schließt den Stift und schiebt ihren Stapel Hausarbeiten mit einem Seufzen zur Seite. „Apropos Nachwuchs...Mo?"

„Ich habe ihn gefunden. Aber er wollte nicht mitkommen. Bevor du austickst, er wohnt gerade bei mir zuhause", sage ich rasch, als Eleanor schon den Mund aufmachen will. „Keine Sorge. Er ist da in Sicherheit."

Eleanor presst die Lippen zusammen, bei ihr immer ein sicheres Zeichen von Missbilligung. „Mir wäre wohler, wenn er wieder ins Kolleg kommen würde", murmelt sie.

„Ganz, ehrlich? Mir auch." Die Sache mit dem Magier in der U-Bahn verschweige ich ihr lieber. Womöglich taucht sie sonst noch persönlich bei mir zuhause auf und schleppt Mo zurück nach Fabelreich. „Aber er will dich noch nicht sehen. Gib ihm noch ein paar Tage."

„Weiß er von Demetra?"

„Ja."

Eleanor nickt. „Danke für deine Hilfe."

„Wie läuft es an der Tagebuch-Front?"

„Nicht gut." Sie faltet die Hände. „Wir haben mittlerweile fast jedes Portalbuch der in Fabelreich ansässigen Wächter untersucht. Von Hecates Tagebuch fehlt jede Spur. Das Problem ist, wir wissen nicht genau, nach was wir eigentlich suchen. Ich habe in den Gesichtsbüchern recherchiert. So wie es aussieht, hat Hecate am Ende ihres Lebens Skrupel bekommen. Sie muss in diesem Buch eine Formel festgehalten haben, mit der man ihre Schöpfung umkehren kann."

„Also wie man Fabelreich vernichtet", flüstere ich.

„Oder zumindest gravierende Änderungen daran vornimmt, ja."

„Aber wie sollen wir Damon davon abhalten, wenn er diese Formel kennt und wir nicht? Wir können nichts bekämpfen, wenn wir nicht wissen, wie es angreift."

„Damon kennt vielleicht die Formel, aber er braucht trotzdem das Buch", sagt Eleanor, „So viel hat er ja durchblicken lassen. Irgendwie scheint es wichtig zu sein. Vielleicht braucht man es für eine Art Ritual, zusammen mit anderen Zutaten. Das würde einer Magierin aus dem Mittelalter ähnlich sehen. Fakt ist, Damon sucht das Buch und wir suchen es auch. Die alles entscheidende Frage ist, wer es zuerst findet."

„Was, wenn wir es gefunden haben?"

„Dann zerstören wir es. Sofern möglich."

„Und danach?"

„Dann zwingen wir Damon zur Konfrontation. Und besiegen ihn, ein für alle Mal. Das ist, was ich seit Tagen tue. Verbündete suchen. Nicolas kommt heute Mittag von seiner Mission zurück. Ich möchte, dass du und die anderen Alumni dabei seid, wenn er eintrifft."

„Wie lange muss ich dieses Kostüm denn noch anbehalten?", frage ich und zupfe an meinem Schattenmantel.

„Das ist kein Kostüm! Du bist die Alumna der Schatten. Verhalte dich so."

„Ich bin ein Kind, Eleanor! In meinem Land dürfte ich noch nicht mal wählen."

„Na und? Nur weil eure Politiker deinem Alter nichts zutrauen, gilt für mich nicht dasselbe."

„Ich kann das nicht! Wenn ich nicht gewesen wäre, dann würde Demetra-"

„Schluss damit! Damon Blackwell trägt die alleinige Schuld an Demetras Lage. Du hast getan, was du musstest. Ich will nichts mehr von diesen Selbstvorwürfen hören. Haben wir uns verstanden?"

„Was das ein Befehl, Priora?", murmele ich, aber es klingt weniger spöttisch als beabsichtigt. Eleanors Trost ist im Gegensatz zu Mos eher von der Sorte Tough Love, aber er hilft auf seine eigene Weise. „Ich denke immer noch, dass sich Nicolas besser als neuer Alumni eignen würde."

„Vielleicht würde er das", sagt Eleanor, „Aber das steht nicht zur Debatte. Die Wächter vertrauen mir ohnehin schon wenig. Ich möchte das letzte bisschen nicht noch zerstören, indem ich einen verurteilten Rebellen zum Alumni der Schatten mache."

„Versucht dich Eric immer noch mit Blicken zu ermorden, wenn du ins Refektorium gehst?"

„Solange es bei Blicken bleibt. Ich meide das Refektorium."

Sie schweigt und das gibt mir Zeit sie zu betrachten. „Du siehst nicht gut aus."

Eleanors Gesicht wirkt schmaler, ihre Wangenknochen stechen schärfer hervor und malen dunkle Schatten auf die Haut darunter. Die gleichen Schatten liegen auch unter ihren Augen. „Eleanor, das muss aufhören", sage ich leise. „Du kannst nicht tagsüber das Kolleg managen und danach sämtliche Nachtschichten bei Demetra übernehmen. Das hält auf Dauer keiner aus."

Eleanor schürzt die Lippen. „Ich bin es ihr schuldig."

„Was? Dich aufzuopfern, nur weil du die Kontrolle nicht abgeben kannst? Hast du Angst sie stirbt, wenn du zu lange weg bist? Was du machst, ist langsamer Suizid! Wenn du unbedingt eine Märtyrerin sein willst, dann musst du dein Leben schon für was Sinnvolleres opfern. Demetra würde sicher nicht wollen, dass du wegen ihr deine Gesundheit an die Wand fährst! Wir brauchen dich. Ausgeschlafen und bei Kräften. Hast du heute was gegessen?"

Eleanor zögert, bevor sie langsam den Kopf schüttelt.

„Na, klasse. Dann hole ich uns jetzt erstmal Scones und zwei Tassen starken, schwarzen Tee. Und während wir essen, kannst du mir in aller Ruhe erklären, was wir von Nicolas' Rückkehr zu erwarten haben. Wie klingt das?"

Eleanor schenkt mir ein schwaches Lächeln. „Danke."

Ich nicke nur knapp. „Wir passen aufeinander auf, erinnerst du dich? Mal ganz davon abgesehen. Was soll Demetra denken, wenn sie aufwacht und dich so sieht? Die glaubt ja, sie sei tatsächlich gestorben und von den Geistern der Toten umgeben."

Daraufhin lacht Eleanor. Es klingt so ehrlich, dass ich nicht anders kann, als einstimmen.

FabelblutWhere stories live. Discover now