Was kein Auge je gesehen

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Direkt hinter der Scheibe liegt eine Figur, wie eine Statue auf einem Steinblock. Es ist unmöglich ihre genauen Züge auszumachen, aber ich weiß, dass es Demetra ist. An ihrer Seite, mit gesenktem Kopf, sitzt eine Frau. Eleanor. Durch das Licht im Gewächshaus ist sie für Mo und mich klar umrissen, aber uns kann sie in der Dunkelheit hinter den Scheiben noch nicht entdeckt haben.

„Sorry, Lina." Mo schluckt. Seine Augen sind auf Eleanor geheftet, als sähe er einen Geist. „Ich schaffe das nicht."

„Du kannst ihr nicht ewig aus dem Weg gehen."

„Schon klar", sagt Mo rasch, „Aber das...das geht mir zu schnell."

„Willst du Demetra nicht wenigstens kurz sehen? Ich könnte Eleanor sagen, dass sie gehen soll. Dann kannst du allein-"

„Nein!" Mo ist einen Schritt zurückgewichen. „Echt, dass ist gerade einfach zu viel." Ich kann die Überforderung förmlich aus seinem Blick lesen. Und die Angst. Er hat sie nicht gesehen, wird mir schlagartig klar. Demetra. In Damons Festung war er nicht dabei und jetzt hat er Angst vor dem Anblick seiner halbtoten Ersatzoma.

„Das ist okay." Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter. „Du kannst sie besuchen, wann immer du willst. Muss nicht sofort sein. Geh ins Kollegium, ruh-"

Mo atmet zitternd aus. „Keine zehn Pferde bringen mich dazu, hier zu bleiben."

„Sei vernünftig." Ich runzele die Stirn. „Hat dir das eben nicht gereicht? Du musst dich verstecken!"

„Das kann ich auch in der Menschenwelt. Es gibt Orte, die Blackwell nicht kennt. Nur die Alumni wissen, wo du wohnst oder?"

„Ja...?" Dann dämmert mir, was er vorhat. „O, nein, warte-"

„Komm schon! Bloß für ein paar Tage. Ich falle praktisch gar nicht auf."

„Wie soll ich das meinem Vater erklären?", frage ich, aber Mos Blick hat die Entscheidung eigentlich schon gefällt. „Schön. Drei Tage", sage ich und ich kann ein triumphierendes Grinsen über Mos Gesicht huschen sehen. „Aber wenn du bis dahin nicht selbst vernünftig geworden bist, schleppe ich dich höchstpersönlich ins Kollegium der Schatten."

***

Nein, Dad, es wird jetzt nicht zur Regel, dass mein Freund hier wohnt. Ja, er schläft auf dem Sofa. Ja, es ist nur für ein paar Tage. Nein, ich möchte kein vertrauliches Gespräch mit dir oder Mareike führen.

Meine Laune hat sich dem Gefrierpunkt genähert, als ich am nächsten Morgen die Tür zum Kollegium der Schatten aufreiße. Es war schlimm genug, meinen Vater Sätze wie aus einem billigen Teenagerfilm sagen zu hören, während es Mo im Hintergrund vor Lachen fast vom Stuhl geworfen hat. Aber beim Gedanken daran, die ganze Sache jetzt Eleanor erklären zu dürfen, wird mir erst richtig übel.

Der schwarze Schattenumhang schwingt mir fast spielerisch um die Beine, während ich den Korridor entlanggehe. Offenbar hat er sich inzwischen an mich gewöhnt. Was allerdings nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Ich finde das Teil einfach unheimlich. Vor Eleanors Tür halte ich inne und klopfe dreimal scharf, bevor ich eintrete.

Noch immer hat Eleanor keine Anstalten gemacht, umzuziehen. Als neuer Priora hätten ihr eigentlich Demetras Räume ein Stock tiefer zugestanden, doch bis jetzt hat Eleanor diese Tatsache erfolgreich ignoriert.

Demetra ist die Priorin, das ist und bleibt ihr Ort, hatte sie einmal recht forsch geantwortet, als Constanze sie darauf hinwies. Ich bin nur die Vertretung, bis sie zu uns zurückkommt. Solange ist es wohl nicht zu viel verlangt, ein paar Treppen mehr zu steigen.

Also ist jetzt Eleanors Arbeitszimmer im Kollegium die neue Schaltzentrale der Wächter, was zu ungewöhnlich viel Publikumsverkehr in diesem abgeschiedenen Teil von Stormglen Manor führt.

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