10. Schlafstörungen

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Talisman

V6 schlief anfangs sehr ruhig. Sie strich über das schwarze Band auf ihrem Bauch, während sie sich ab und an mal drehte. Doch dann fing sie im Schlaf an zu weinen. Das habe ich noch nie erlebt. Dass man redet allerdings schon öfter. Ich versuchte sie zu beruhigen, indem ich sie das schwarze Band noch mehr spüren ließ. Sie schien es zu merken, denn sie umklammerte das Band noch fester. Irgendwas muss es geben, das ihre Schlafstörungen auslöst.
Vielleicht weint sie jetzt, weil sich ihr Freund von ihr getrennt hat, weil sie am Tage kaum bis gar keine Emotionen zeigt. In der Nacht allerdings kann sie dafür nicht verurteilt werden.

Nach gut 15 Minuten Dauerweinen wachte V6 erschrocken auf und sah auf die Uhr. 22.30 Uhr. Sie hatte gerade einmal zweieinhalb Stunden geschlafen.
Nachdem sie sich gesammelt und etwas getrunken hatte, setzte sie sich wieder in meinen Innenraum. Ich schien es ihr wirklich angetan zu haben.
Sie kraulte mir das Lenkrad, während sie sagte: "Mein Großer, ich entschuldige mich dafür, dass du meine grässlichen Schlafstörungen mitbekommen hast. Es tut mir wirklich unglaublich leid."

Sie wollte aussteigen, um der Situation zu entkommen, doch ich ließ sie nicht. Ich verriegelte die Türen -immerhin das funktioniert noch- sodass sie in mir gefangen ist. Ihr schien das aber nicht ganz so zu gefallen, denn sie rüttelte am Türgriff.
"Lass mich raus, mein Großer! Ich muss ganz dringend aufs Klo!"
Ich öffnete meine Türen nicht. Wie will sie denn zur Toilette gehen, wenn sie ihren Gurt noch trägt?
"Hast du nicht was vergessen?", fragte ich. V6 antwortete bedrückt: "Lass mich BITTE raus, mein Großer. Ich glaube nicht, dass du auf nasse Ledersitze stehst. Und ich habe eine Blasenentzündung, das wäre sehr ungünstig."
"Das meine ich nicht", sagte ich.
V6 griff mir panisch ans Lenkrad.
"Was meinst du? Ich komm nicht drauf!", rief sie.
"Naja, ich glaube nicht, dass du es mit dem schwarzen Band auf dem Bauch zur Toilette schaffst!", lachte ich.
"Sag mir das doch gleich mein Großer!", sagte sie und schnallte sich ab. Ich entriegelte meine Türen und V6 sprintete zur Toilette.

Nachdem sie ihre Blase geleert und erleichtert zu mir kam, überlegte ich, ob ich es ihr sagen soll, dass sie im Schlaf weint. Sie setzte sich wieder in meinen Innenraum und schnallte sich an. Den Diagonalteil des Gurtes zog sie soweit heraus, bis sie ihn hinter die Rückenlehne legen konnte.
Anschließend fuhr sie die Rückenlehne des Fahrersitzes so weit herunter, bis er eine waagerechte Fläche ergab.
"Wieso trägst du denn den Gurt beim Schlafen?", fragte ich.
V6 erklärte: "Wie du bestimmt schon mitbekommen hast, schlafe ich sehr unruhig. Der Gurt um meine Hüfte soll verhindern, dass ich vom Sitz falle und dir womöglich noch weh tue. Ich liebe dich und man tut seinem Partner nicht weh."
"Ich bin ein Auto", sagte ich, "ich habe keine Gefühle."
"Aber trotzdem kannst du sprechen und äußerst Emotionen!", sagte V6, drehte sich um und schlief ein.

Ich fühlte mich geschmeichelt. So etwas hat nie jemand zu mir gesagt.
V6 schien eigentlich noch müde zu sein, so schnell wie sie wieder einschlief. 
Ich fing fast an zu weinen. Was V6 nicht weiß: Ich HABE Gefühle. Allerdings können es nur die Auserwählten wahrnehmen. Dass ich keine Gefühle habe, habe ich nur gesagt, um V6 etwas zu beruhigen. Ihr tut wirklich jede Kleinigkeit leid.
Daran müssen wir arbeiten.

V6 schlief die nächsten sechs Stunden einigermaßen ruhig, bis auf dass sie wieder angefangen hat zu weinen. Die ruckartigen Drehungen störten mich nicht, denn die Ledersitze sind dick genug. Sie knuddelte einen Zoe, der sich auf ihrer Bettdecke wiederfindet. Schön, dass Elektroautos auch mal geliebt werden.

Die Legende von TalismaniaWhere stories live. Discover now