Gegenwart (3)

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Gegenwart

»Bei dir sind meine Gedanken

Und flattern um dich her;

Sie sagen, sie hätten Heimweh,

Hier litt es sie nicht mehr!

Bei dir sind meine Gedanken

Und wollen von dir nicht fort;

Sie sagen, das wär' auf Erden,

Der allerschönste Ort!

Sie sagen, unlösbar hielte

Dein Zauber sie festgebannt;

Sie hätten an deinen Blicken

Die Flügel sich verbrannt.«

Friedrich Halm

Obwohl der Anruf von Mia bereits zehn Minuten zurückliegt, stehe ich noch neben der Couch im Wohnzimmer. Ich sehe mich um, lasse meinen Blick durch den Raum schweifen, während meine Gedanken nur so dahinfliegen.

Ben, erinnerst du dich, wie oft wir hier gesessen und Kino-Abende mit Freunden veranstaltet haben? Wie oft du mich hier in den Arm genommen hast, während du in ein Buch versunken warst? Ich tue es. Ich denke jede verdammte Minute daran. Daran, dass du hier nie wieder mit mir sitzen wirst, daran, dass alles hier ohne dich kalt wirkt, anders.

Wir haben das Haus erst vor sechs Monaten bezogen und ein Karton von dir steht immer noch unausgepackt unter der Treppe. Ich habe mich nicht getraut, ihn zu öffnen. Wer weiß, was ich darin finde. Wer weiß, wie viele Erinnerungen darin verborgen liegen.

Ich denke daran, dass du, als wir eingezogen sind, angefangen hast, mir kleine Nachrichten zu hinterlassen, jeden Tag eine. Du hast sie auf ein kleines, buntes Post-it geschrieben und irgendwo im Haus versteckt. Meist so, dass ich sie im Laufe des Tages finden konnte. In meiner Müslischale, meinem Teebecher, neben meinem Wecker, in meinem Portemonnaie oder im Briefkasten. Manchmal stieß ich jedoch nicht von alleine darauf und als ich dich am Ende des Tages fragte, wo mein Zettelchen sei, sagtest du lachend zu mir, dass ich es schon irgendwann finden werde.

Ich weiß nicht, wie viele Zettel, wie viele Nachrichten und wie viele Erinnerungen hier noch versteckt sind. Ich habe Angst davor, sie zu finden.

Das ganze Haus ist voller Erinnerungen. An jeder Ecke liegen sie verborgen und erwachen, wenn man an ihnen vorbeigeht. Es ist komisch, wie schnell man schöne und wundervolle Dinge mit einem Ort verbinden kann.

Ich überlege, unser Haus zu verkaufen, Ben. Das hier war unser Traum und unsere Zukunft, unsere gemeinsame, nicht allein meine. Aber es gibt jetzt nur noch mich. Ich bin mir nicht sicher, ob dir dieser Gedanke gefällt, wohl eher nicht, aber du wärst nicht böse, wenn es mir dadurch vielleicht besser ginge. Denn du bist überall. In jeder Ecke dieses Hauses. Du bist das Licht, das morgens durch die Fenster dringt, du bist das Knarzen der Treppe und die Wärme des Kamins. Du bist jeder Schatten des Hauses.

Wie kannst du gleichzeitig alles und nichts sein? Wie kann es sein, dass ich dich noch überall sehe, überall rieche und deine Stimme immer noch höre? Wie kann es sein, dass alle anderen dich schon zu vergessen scheinen? Und warum gibt es für uns kein wie immer?

Ich schließe kurz die Augen und versuche, alles nicht noch schlimmer zu machen. Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Als ob das noch möglich wäre. Rein gar nichts wäre schlimmer, als es das nicht ohnehin schon ist.

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⏰ Last updated: Sep 08, 2016 ⏰

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For Good - Eine Geschichte über die Liebe und das LebenWhere stories live. Discover now