Parade

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Das Wetter wollte einfach nicht zum Anlass passen, keine düsteren Wolken, keine Tränen vom Himmel. Aber es war ja auch nur ein persönlicher Anlass für eine kleine Schar von Menschen, was hatten die für einen Anspruch, dass sich das Klima nach ihnen richtete? So war es unerträglich heiß, überall in der Stadt wurden alle verfügbaren Behältnisse mit Wasser gefüllt, Kinder sprangen hinein und heraus, schrien und konnten nicht genug Abkühlung bekommen. Keine Wolke war am endlosen Blau des Himmels auszumachen, und das sollte auch in den nächsten Tagen so bleiben, die Zeitungen nannten es bereits Hitzewelle, Ventilatoren waren lange ausverkauft.

Die kleine Gruppe stand etwas außerhalb der Stadt, wie das für Plätze dieser Art so üblich ist, auf einem Hügel, der einen weiten Blick erlaubte. Die Aussicht hätte an jedem anderen Tag als malerisch beschrieben werden können, aber die Anwesenden machten sich nicht die Mühe, sie weiter zu betrachten, sie kannten sie alle und ignorierten sie heute, es gab Wichtigeres zu tun. Die Geräusche der Stadt drangen nur gedämpft herüber, ein dumpfes Brummen lag unterschwellig über der Welt, es kam von der Autobahn, die sich in einiger Entfernung durch die Landschaft schlängelte, hier verschwand, dort unvermittelt wieder auftauchte und für ferne Brandung gehalten werden konnte oder die Bemühungen eines riesengroßen schwerfälligen Käfers, der gegen den Wind ansteuert. Es roch nach Heu und Gras, das noch auf den Wiesen verdorrte und seine Würze in die drückende Schwüle streute, die das Atmen schwer machte und den Eindruck vermittelte, als würden winzige Dornen in die Atemwege eindringen, die ständig dazu reizten, die heiße Luft so schnell wie möglich wieder von sich zu stoßen, nur um im nächsten Zug erneut attackiert zu werden von der unerbittlichen Hitze.

Die Gemeinschaft bestand aus zwei Teilen, die sich in argem Ungleichgewicht befanden. Auf der einen Seite stand der Ehemann, ihm gegenüber alle anderen, die Gäste, Verwandte, Bekannte, Nachbarn, Schaulustige, nicht allzu viele, trotzdem sah es so aus, als würde eine kleine Mannschaft sich dazu anschicken, jeden Moment loszustürmen, denn sie hatten sich bereits ausgerichtet, postiert, aufgereiht wie für einen Angriff. Sie sahen dem Einzelnen entgegen und würden jeden Moment starten mit ihrer Parade, ihrem Vorbeidefilieren an dem Einen, der sich nicht bewegen würde, der stehen bleiben, ausharren musste, bis sie alle vorbei waren.

Trotz der sengenden Hitze waren die Teilnehmer der Veranstaltung angemessen gekleidet, es gab keine kurzen Hosen oder Ärmel, so wenig Haut wie möglich wurde gezeigt, die Kleidung war dunkel, zumeist schwarz, einige trugen sogar Hüte und widerstanden tapfer dem Impuls, sich ständig über Gesicht und Nacken zu wischen, die von rinnenden Tropfen wie von lästigen Insekten immer wieder erneut heimgesucht wurden. Kleidung klebte an Körpern, wurde zum Teil durchsichtig, und die Nässe bot doch keine Linderung, da sich nicht das kleinste Lüftchen regte.

Der Ehemann wartete. Sein Blick ging vorbei an der unvermeidlich auf ihn zusteuernden Gruppe, durch sie hindurch beinahe, er fixierte die Hügel gegenüber, wo sich die Autobahn entlangzog, die ihr Brummen herüberschickte, was er jedoch nicht hörte. Heute fanden der Höhepunkt und das Ende einer zehnjährigen Wartezeit statt, die er in banger Erwartung verbracht hatte, in Hoffnung manches Mal, dann wieder in Angst, dass doch endlich jemand kommen würde, der ihn aufklärte, der ihm sagen konnte, was wirklich passiert war, aber natürlich konnte das nicht geschehen.

Wenn nur dieses Wetter nicht wäre, diese verdammte Glut. Wann hatte es das letzte Mal geregnet? Es schien Monate her zu sein, aber was sollte er machen, er konnte sich den Zeitpunkt nicht aussuchen, besser heute als morgen, besser jetzt als gleich, lass es uns endlich hinter uns bringen, lass es uns festschreiben, Geschichte schreiben und dann weitergehen, nach vorne sehen. Das hatte ihm seine Schwester schon vor Jahren gesagt: Er solle nach vorne sehen, nicht mehr zurück, er solle sich abfinden mit dem Schicksal, mit der Geschichte, seiner Geschichte, und er hatte nur zu gut gewusst, dass dieser Ratschlag wahrscheinlich das Beste war, was ihm seit Jahren untergekommen war, trotz allem gab es keine Möglichkeit, die Trauer und die Verzweiflung durch reinen Willen dem anzupassen, was sein Verstand schon lange als Realität akzeptiert hatte. Wenn man nach vorne sieht und erblickt dort nur Nebel, ist jeder Ratschlag eines anderen für den nächsten Schritt ein Witz, klingt wie Hohn und nur plausibel für den, dessen Sicht unverstellt ist, der klar sehen und denken kann. Aber wer vor der Nebelwand steht, die jeden Schritt zum Risiko werden lässt, zum endgültigen, der ins Leere führen kann, in den Abgrund oder nur vor eine solide Wand aus Tränen, die einem den Kopf blutig schlägt, der denkt anders. Ein solcher dankt herzlich für die warme Zuwendung und weiß doch, dass die Kälte nicht zu vertreiben ist mit Worten, nicht mit einer Umarmung oder sogar Beistand, der nicht zu ertragen ist, der einem falsch vorkommt, fehl am Platz und doch so gut gemeint ist.

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