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Liebes Tagebuch,
heute ist bereits der zweite Tag nach dem Wiedersehen mit Wincent. Ich weiß noch immer nicht so genau, wie ich mit der ganzen Situation umgehen soll. Dieses Treffen hat mich komplett aus der Bahn geworfen - mal wieder. Irgendwie scheint mir jemand meine Pläne nicht zu gönnen. Ich wollte eigentlich in Ruhe hier im Norden wieder ankommen. Meine Mutter sollte als Erste erfahren, dass ich wieder hier bin und ich habe den tiefen Wunsch, dass ich noch irgendwas von unserer Beziehung retten kann. Seit meiner Flucht damals habe ich meine Mutter nur sehr sporadisch auf dem Laufenden gehalten und ich fürchte mich davor, wie unser Wiedersehen abläuft. Noch größere Angst habe ich allerdings davor, ihr die ganze Geschichte erzählen zu müssen.
Ich überlege gerade, was ich mit dem heutigen Tag anfangen soll, als eine neue Nachricht auf meinem Handy auftaucht. Überrascht nehme ich es in die Hand und entsperre es.

 Überrascht nehme ich es in die Hand und entsperre es

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Ich starre auf mein Display. Kurz wandert mein Blick nach oben und mir fällt fast das Handy aus der Hand. Die Nachricht ist von Kim, meiner besten Freundin aus Schulzeiten. Und es ist die erste seit zwölf Jahren.
Nach dem Abitur ist sie mit ihrem damaligen Freund Max nach England an die Oxford-Universität gegangen. Die beiden hatten das große Glück, dort ein Stipendium zu bekommen, allerdings kann ich mich nicht mehr genau erinnern, wie das kam. Auf jeden Fall haben wir noch einige Jahre den Kontakt gehalten, aber irgendwann verlief sich das im Sand. Was aus ihr geworden ist und ob sie noch mit Max zusammen ist, weiß ich nicht. Ihr Profilbild lässt allerdings darauf schließen. Ich stutze kurz - sind die beiden inzwischen wirklich zweifache Eltern?
Kurz frage ich mich, wie Kim einfach so tun kann, als wäre nichts gewesen, aber dann fällt mir ein, dass sie das schon immer konnte. Da meine Pläne eh im Eimer sind, entschließe ich mich dazu, ihr direkt zu antworten. Ein bisschen quatschen und so tun, als wäre die Welt wieder in Ordnung, tut mir bestimmt gut.

 Ein bisschen quatschen und so tun, als wäre die Welt wieder in Ordnung, tut mir bestimmt gut

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Ich schaue auf die Uhr - noch 5 Stunden bis zum Treffen mit Kim.
Bevor mich mein Mut wieder verlässt, atme ich noch einmal tief durch und wähle die Nummer meiner Mutter. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich jemals so nervös war. Meine Abiturprüfungen und sogar die Verteidigung meiner Masterarbeit waren eine Spaziergang dagegen. Und bei beiden habe ich schon drei Tage vorher jeden in meinem Umfeld in den Wahnsinn getrieben. Gut, beim Abi wahrscheinlich jeden außer Wincent und Marco, aber die waren, was das Schulische angeht, eh immer die Ruhe in Person.
Es klingelt zweimal und dann dringt tatsächlich die Stimme meiner Mutter aus meinem Handy an mein Ohr.
„Ja?"
„Mama?"
Ich höre ein Schluchzen am anderen Ende. „Betti?", fragt sie dann zitternd.
„Ja, ich bin's", antworte ich und schlucke schwer. „Hast du ein bisschen Zeit?"
„Klar, für dich immer. Wie geht es dir denn?"
„Naja, könnte besser sein", antworte ich ehrlich. „Meine Rückkehr hab ich mir irgendwie anders vorgestellt."
„Deine Rückkehr? Du bist wieder im Norden?", hakt meine Mutter ungläubig nach.
„Ja, ich sitze gerade in meinem alten Häuschen und schaue auf's Wasser."
„Das ist sehr schön. Ich freu mich, auch für dich."
„Danke, ich freu mich auch."
„Bist du schon ein bisschen angekommen?"
Ich schüttel den Kopf, bis mir einfällt, dass meine Mutter das ja gar nicht sehen kann.
„Nicht wirklich. Meine Vergangenheit hat mich schneller eingeholt als geplant.
„Oh. Willst du drüber reden?"
Ich zögere kurz, aber warum eigentlich nicht. Es ist zwar ziemlich seltsam, nach neun Jahren einfach so mit meiner Mutter zu quatschen. Wüsste man es nicht besser, könnte man denken, wir haben uns vielleicht zwei Wochen nicht gesehen, weil ich im Urlaub oder so war. Nur leider ist dem nicht so, die ganze Situation ist ein wenig komplexer.
„Ich hab Wincent wiedergesehen. Direkt an meinem ersten Abend hie, erzähle ich.
„Ah, ist er wieder im Norden?"
„War er. Aber irgendwas kam dazwischen und er musste nach München zurück."
„Oh."
„Wusstest du, dass er ein erfolgreicher Musiker ist?", frage ich nach einer kurzen Pause.
„Ja. Er hat schon des Öfteren hier oben Konzerte gespielt. Wunderbar, kann ich dir sagen. Das musst du mal erleben."
„Mal sehen", erwidere ich nur, obwohl es mich schon reizt.
Also ohne seine Songs zu kennen, einfach nur um mal zu sehen, was aus meinem tollpatschigen besten Freund geworden ist.
„Weißt du was, in zwei Wochen spielt er in Hamburg. Da gehen wir beide hin."
„Mama..."
„Keine Widerrede. Es wird dir gefallen, glaub mir."
„Also gut", gebe ich nach.
Ich will meine Mutter nicht vor den Kopf stoßen nach der langen Zeit, und neugierig bin ich auch.
Wir telefonieren noch eine ganze Weile. Sie erkundigt sich nach meinem Studium und als ich ihr erzähle, dass ich den Master schon in der Tasche habe, freut sie sich richtig für mich. Natürlich fragt sie dann direkt, wie es mit einem Job aussieht und ich beruhige sie, dass ich mich morgen darum kümmern werde. Ich lasse mich von ihr kurz auf den aktuellen Stand bringen, was ich hier so verpasst habe. Die Zeit verfliegt nur so. Als wir endlich auflegen und eine Verabredung zum Abendessen morgen im Kalender stehen haben, muss ich mich schon langsam für mein Treffen mit Kim fertigmachen. Ich springe schnell unter die Dusche und ziehe mir dann einfach eine Jeans und ein lockeres Shirt an. Ich werfe mein Handy, mein Portemonnaie in eine kleine Handtasche. Im Flur ziehe ich meine Turnschuhe an, nehme zur Sicherheit meine Strickjacke von der Garderobe, hänge meine Tasche um und verlasse das Haus. Ich schließe hinter mir ab und mache mich auf den Weg zu meinem Auto. Da fällt mir ein, dass ich meinen Schlüssel drinnen liegen gelassen habe. Also nochmal zurück, ihr holen und dann das gleiche Spiel von vorne. Endlich sitze ich im Auto und fahre nach Scharbeutz. Den Weg zu der Seebrücke, unserem Lieblingsplatz zu Schulzeiten, kann ich noch immer noch auswendig.
Ich bin ein wenig zu früh, eigentlich total ungewöhnlich für mich, und als ich so über die Holzbohlen laufe, kommen diverse Erinnerungen hoch. Wie ich mit Wincent unter der Seebrücke im Sand sitzend für die Schule gelernt und Hausaufgaben gemacht habe. Wie ich mit Marco, Kim und Wincent am Ende des Stegs saß, meistens mit Bier in der Hand und nur blöden Ideen im Kopf. Die meisten davon haben wir natürlich umgesetzt, sehr zum Leidwesen aller anderen in den meisten Fällen. Wenn ich so darüber nachdenke, war ich in meiner Schulzeit so gut wie immer hier. Es war gewissermaßen unser Treffpunkt, unsere Flucht aus dem Alltag und der Realität.
„Tina?", sagt plötzlich eine mir sehr bekannte Stimme hinter mir.
Ich drehe mich um und Kim fällt mir direkt in die Arme.
„Es ist so schön, dass du wieder hier bist und wir uns endlich wiedersehe", flüstert sie mir zu und mich durchströmt direkt wieder das altbekannte Gefühl der Wärme.
Es ist, als wäre ich nicht viele Jahre, sondern nur wenige Wochen weg gewesen.
„Ich freue mich auch, sehr sogar", erwidere ich.
„Lust auf einen kleinen Spaziergang? Mal wieder so richtigen Sand unter den Füßen spüren und vielleicht die ein oder andere Welle?"
„Auf jeden Fall", erwidere ich und lächle Kim an, was sie direkt erwidert.
Während wir gemütlich am Strand am Strand entlang laufen, reden wir einfach über das, was gerade so passiert. Kim ist tatsächlich seit sechs Jahren mit Max verheiratet und gemeinsam haben die beiden einen fünfjährigen Sohn, Tim, und eine zweijährige Tochter, Lara. Max hat seinen Traum wahr gemacht und ist zur Polizei gegangen, während Kim als Verwaltungschefin in einer Klinik arbeitet. Ich muss grinsen, denn eine Führungsposition passt zu Kim wie die Faust aufs Auge. Natürlich will sie alles über meine Zeit in London wissen, aber so wirklich viel Spannendes gibt es da nicht zu berichten. Ich war einfach eine Vorzeige-Studentin, die nebenbei in einem Café gejobbt hat - ganz klassisch. Ich erzähle ein bisschen von Jenny und von meinem Plan, mich hier im Norden bei einem Label zu bewerben. Kim ist direkt begeistert und fängt schon an, neue Ideen zu spinnen.

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⏰ Last updated: Mar 18 ⏰

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