Magdalen College (1)

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„Was unterrichtet sie denn?"

„Frag mich nicht. Irgendwas mit Englisch." Wir treten durch einen steinernen Torbogen. Vor uns liegt ein schmaler Treppenaufgang, beleuchtet von schmiedeeisernen Laternen. Eine Art Metalldrehkreuz ist davor angebracht. Mo zieht sein Plastikkärtchen durch einen leuchtenden Schlitz und es piepst. Dann können wir durch.

Ziemlich surreal, so viel Technik mitten in diesen alten Mauern. Ein bisschen, als würde in Harry Potter plötzlich jemand sein Smartphone auspacken.

„Eleanor gibt dir sicher ne Führung", sagt Mo, während wir die dunklen Stufen hinaufsteigen, „Vielleicht nimmt sie uns sogar mal zum formal Dinner mit. Die Speisesäle in den alten Colleges sind echt der Wahnsinn. Exakt wie die große Halle."

„Ernsthaft? O, mein- Was muss ich tun, um hier zu studieren?"

Mo schnaubt. „Entweder viel Hirn oder viel Geld haben. Im Idealfall beides. Ist immer noch eine Elite-Uni."

Aha. Langsam wird mir klar, warum Eleanor ist wie sie ist.

„Ganz schön wenig los, in dieser Elite-Uni." Es ist zwar noch relativ früh am Morgen, aber trotzdem habe ich bis jetzt noch in keinem der Fenster Licht gesehen, geschweige denn, dass wir jemanden getroffen hätten.

Christmas Break.", sagt Mo, „Die meisten sind zuhause. Außerdem dürfen in diesen Teil keine Studenten." Mo führt mich durch ein Labyrinth aus schmalen Gängen, gesäumt von Holztüren. Ich merke, wie er schneller wird, seine Schritte sind schwungvoller. Nach den letzten Tagen bin ich froh, ihn wieder besser gelaunt zu sehen. Je näher er Eleanor kommt, desto aufgeregter scheint er zu werden und irgendwie überträgt sich seine gespannte Vorfreude auf mich. Hätte nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde -und ich werde es sicher nie offen zugeben-, aber sie hat mir auch gefehlt. Nicht nur, weil ich Fragen habe und Antworten brauche. Nach den letzten Tagen sehne ich mich geradezu nach ihrer forschen, abgeklärten Art. Unser Kollegium braucht jemanden, der kühl die Übersicht bewahrt, einen Plan machen kann. Der weiß, was zu tun ist und wie wir weiter vorgehen.

Plötzlich hält Mo inne.

Wir stehen am Beginn eines kleinen Seitengangs. An seinem Ende liegt eine einzige Tür. Selbst im dämmrigen Licht kann ich den Namen auf dem goldenen Schild erkennen: E. Murray

Die Tür ist nur angelehnt.

„Mo...?" Ich sehe in seine Richtung.

„Was zur Hölle-?" Er runzelt die Stirn. Rasch tritt er vor und stößt mit einer leichten Handbewegung die Tür auf.

Eisige Luft strömt uns entgegen.

„Eleanor?" Mos Stimme hallt durch den leeren Gang, verliert sich im Zimmer. Es liegt ein leichtes Zittern darin. „Eleanor!"

Keine Antwort.

„Vielleicht schläft sie noch", sage ich vorsichtig.

„Um diese Uhrzeit? Nur, wenn sie betrunken ist." Er macht einen Schritt in den Raum.

Drinnen ist es dunkel und kalt.

Zu kalt.

Mo tastet nach dem Lichtschalter und ein paar Meter neben uns flammt ein Lampenschirm auf. Vor uns erstreckt sich ein langer Flur, Türen zu beiden Seiten. Es gibt zwar keine Kugelleuchten aus Milchglas, die an alte Öllampen erinnern, aber ansonsten ähneln Eleanors Universitätsräume denen in Stormglen Manor: Dunkle Holzmöbel, wie aus dem Studierzimmer eines Tote-Sprachen Professors. Und Bücher. Bücher über Bücher, nicht nur in Regalen, sondern als Stapel auf Böden und Tischen verteilt.

Mo geht voran. In der Stille quietschen die Dielen unter seinen Schuhen. Ich kann immer hören, wo er gerade ist, Schlafzimmer, Bad, Wohnzimmer, während ich im Türrahmen zurückbleibe.

Irgendwas stimmt hier nicht. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, aber etwas an diesem Ort löst ein unangenehmes Kribbeln in meinem Nacken aus. Manche Leute glauben, dass Räume dunkle Energien haben können. Ich habe das immer als Spinnerei abgetan, aber zum ersten Mal bin ich nicht mehr so sicher.

Am Ende des Gangs schimmert ein quadratischer Lichtfleck durch die Dunkelheit. Langsam laufe ich durch den Flur, immer bedacht, keinen der Bücherstapel umzureißen. Sie schwanken jedes Mal bedrohlich, wenn mein Wintermantel daran hängen bleibt.

Das quadratische Licht stellt sich als Fenster heraus. Es steht offen, sperrangelweit, und offenbart den Blick auf einen klaren, blauen Himmel. Am Rand der Scheibe haben sich bereits kleine Eisblumen gebildet. Deswegen ist es hier so kalt. Ich fahre eine mit dem Finger nach und schaudere. Wie blöd kann man sein, bei diesen Temperaturen die ganze Nacht über sein Fenster offen zu lassen?

Meine Augen wandern durch den Raum. Das muss Eleanors Arbeitszimmer sein. Nur, dass es ganz anders wirkt, als Eleanors Arbeitszimmer in Stormglen. Überhaupt nicht bewohnt. Keine offenen Füller oder Papierstapel liegen herum und der Boden glänzt, als sei gerade eben nass durchgewischt worden. Eleanor ist zwar erst seit einem Tag wieder hier, aber wenn jemand seine Wohnung nicht verlassen darf, dann müsste man selbst in so kurzer Zeit doch irgendwelche Spuren finden? Im Flur standen ein paar Koffer und Umzugskisten, allerdings hat die mit Sicherheit noch keiner aufgemacht. Klar packt man in den ersten Tagen noch nicht alles aus. Aber so überhaupt nichts? Das passt nicht zu Eleanor. Das passt ganz und gar nicht zu Eleanor.

Auf dem Fensterbrett steht ein halbvolles Whiskeyglas (Na, bitte, das passt schon wieder deutlich mehr zu ihr!). Es wirkt unberührt, bis ich es in die Hand nehme und gegen das Licht drehe. Ein blasser Lippenabdruck klebt am oberen Rand. Sie muss am Fenster gestanden haben, als sie es getrunken hat, wahrscheinlich ähnlich wie ich jetzt, den Blick nach draußen gerichtet. Aber warum ist das Glas dann nicht leer? Ich kenne Eleanor jetzt auch schon ne Weile, sie ist nicht der Typ, der nach ein paar Schlucken aufhört. Vor allem nicht, wenn sie wütend ist. Und sie muss sehr wütend gewesen sein, als sie hier ankam. Wütend und verzweifelt, die beste Stimmung, um sich so richtig die Kante zu geben. Also warum ist das Glas nicht leer? Was hat sie da draußen gesehen?

Mein Blick schweift über weitläufige Parkanlagen. Allmählich weicht die Sonne den Raureif auf, Tautropfen glitzern schon auf dem Rasen, aber in der Ferne liegt noch Nebel zwischen den Bäumen und sie wirken wie wurzellose, schwebende Riesen. Rechts von uns kann ich einen kleinen Fluss erkennen. Eine Gruppe Leute ist mit einem schlanken Boot darauf unterwegs, immer wieder tauchen ihre Ruder ins Wasser, mit perfekter Synchronität. Was für ein schöner Tag das werden könnte.

Ein Knarzen hinter meinem Rücken, verrät mir, dass Mo das Zimmer betritt. Offenbar hat er seine Durchsuchung beendet. Ich höre, wie er Luft holt, seine Stimme scheint belegt. „Sie ist nicht hier."

Langsam drehe ich mich zu ihm um, das Whiskyglas noch immer in der Hand. „Was meinst du, wo-?" Mein Blick löst sich vom Glas, fällt auf die Schreibtischplatte neben mir. Sie ist leer, unauffällig. Vorhin habe ich ihr gar keine Beachtung geschenkt.
Vielleicht sticht es mir gerade deswegen jetzt so deutlich ins Auge.

Da liegt etwas, genau in der Mitte des Tisches.
Seltsam, was...?

Ich gehe in die Knie, beuge den Kopf darüber. Vier rote Steine. Fein säuberlich aufgereiht, nebeneinander. Zu präzise für Zufall. Zuerst denke ich, es sind Edelsteine, Rubine vielleicht. Man muss schon genau hinsehen. Ich kapiere es erst, als ich einen von ihnen mit dem Zeigefinger anstupse und mir roter Saft entgegenspritzt.

Es sind Granatapfelkerne.

„Mo...?", sage ich langsam, „Das solltest du dir mal anschauen."

Ich hebe den Kopf, blicke zu ihm hoch. Dabei streifen meine Augen die Schreibtischkante.

Erst da sehe ich das Blut.

FabelblutWhere stories live. Discover now