In the bleak midwinter(1)

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Zuerst sehe ich nur Haare. Flammend rote Haare, dicht und lockig, aufgefächert wie ein Sonnenkranz. Sie umrahmen das blasse Gesicht einer Frau.

Reigen. Der Name hallt als Echo von Demetras Schrei durch meinen Kopf.

Reigen scheint jung zu sein, etwas älter als ich, aber der Körper unter ihrer Lederrüstung wirkt zierlich wie bei einem Kind. Ihr ganzer Knochenbau hat so etwas Zartes, Zerbrechliches. Zusammen mit dem leuchtenden Orange ihrer Haare, erscheint sie fast außerirdisch. Das seltsamste aber sind die Federn. Rot, golden und purpurn liegen sie rund um die Leiche herum verstreut im Sand. Kein Hinweis darauf, woher sie stammen, kein Anzeichen eines Kampfes. Trotzdem erinnert mich die Szene an das Schlachtfeld, das Greifvögel manchmal nach der Jagd hinterlassen.

Plötzlich fröstele ich. Ich schlinge die Arme um meinen Körper, greife aber vergeblich nach einem kuscheligen Jumper. Zum ersten Mal, seit wir losgelaufen sind, wird mir bewusst, dass ich gerade nachts, mitten im Winter, in einem Abendkleid an einem stürmischen Strand kauere. Mein Vater würde ausrasten, wenn er mich sehen könnte. Trotzdem glaube ich nicht, dass mein Frösteln etwas mit dem Wind zu tun hat.

Ehrlich gesagt bin ich froh, dass Reigen zumindest äußerlich unverletzt ist. Kein Blut, keine abgetrennten Körperteile. Erst bei genaueren Hinsehen wirken Reigens Beine und Arme merkwürdig verdreht. Als wäre sie gefallen. Aber von wo? Die Klippen sind zu weit weg, an dieser Stelle geht das Land direkt flach ins Meer über.

„Ist sie gestürzt?" Der Wind trägt meine Stimme aufs Meer hinaus, lässt sie leiser und zaghafter wirken. Die Alumni verstehen mich trotzdem.

„Reigen ist ein Phönix", flüstert Demetra, ohne den Blick von der Frau am Boden abzuwenden, „war ein Phönix, meine ich." Beim letzten Satz stockt ihre Stimme. Sie schließt die Augen und ich bin mir ziemlich sicher, dass die Tropfen auf ihren Wangen nicht von der Gischt stammen.

Ein Phönix also. Jetzt macht einiges Sinn. Dunkel erinnere ich mich an die Stunden in Demetras Studierzimmer, als sie Roxy und mich die unterschiedlichen Fabelwesen und ihre Eigenschaften gelehrt hat. Phönixe sind Gestaltwandler. Meistens leben sie unter Menschen, aber wenn sie wollten, können sie sich in riesige rotgoldene Feuervögel verwandeln, die einen brennenden Schweif hinter sich herziehen. Die Menschen des Mittelalters haben oft geglaubt, sie sähen einen Kometen, wenn in Wahrheit ein unvorsichtiger Phönix den Nachthimmel gekreuzt hat. Selbst in ihrer Menschenform haben Phönixe einen ultraleichten Körperbau mit hohlen Knochen, wie Vögel.

Und dann ist da noch die Unsterblichkeit. Merkt ein Phönix, dass er alt wird und seine Kräfte schwinden, kann er sich selbst in Brand setzen und aus seiner eigenen Asche neu geboren werden. Ziemlich coole Eigenschaft, eigentlich.

Hilft nur anscheinend weniger, wenn du ermordet wirst.

„Reigen wäre niemals einfach so vom Himmel gefallen." Demetra presst die Lippen zusammen. „Da hat jemand nachgeholfen." Ihr Blick wandert über Reigens Rüstung, ihre Beine, Arme, Brust und plötzlich zieht sie scharf die Luft ein.

Noch bevor sie den Mund aufmacht, weiß ich, was los ist.

Ich habe es auch gesehen.

Knapp unterhalb von Reigens rechter Schulter klafft ein Loch im Brustpanzer. Es ist vollkommen rund, ein glatter, kreisförmiger Durchschuss. Gibt es Pistolen in Fabelreich?

Halt. Irgendetwas stimmt nicht an dem Bild. Schusswunden bluten doch, richtig? Aber die Rüstung ist sauber, keine Spur von Dreck oder Blut.

Dann erst bemerke ich den schwarzen Rand um die Einschussstelle. Ein Stein sackt in meinen Magen. Nein, eher ein Eisklotz. Rasend schnell breitete sich seine Kälte aus, schickt eine Gänsehaut über meine Arme und Beine. Ich habe das hier schon einmal gesehen. Ein perfekter schwarzer Kreis, ein gähnender Abgrund. Verbrannt und doch nicht verbannt. Als sei dieses Ding, das die Wunde verursacht hat, heißer als jedes natürliche Feuer. Oder aber etwas völlig anderes. Mir fällt nur eine Substanz ein, die solche Verletzungen macht:

FabelblutWhere stories live. Discover now