Das Falsche, Böse und Hässliche (3)

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In den letzten Wochen habe ich meine neuen Kollegen besser kennengelernt. Tagsüber gehen wir uns meistens aus dem Weg. Eleanor schließt sich in ihrem Arbeitszimmer ein und will nicht gestört werden, Mo hat Privatunterricht, ich Schule. Erst gegen Nachmittag treffen wir uns im Kollegium. Ich sitze dann meistens vor dem Kamin über meinen Hausaufgaben, während Eleanor und Mo Schach spielen und über irgendwas diskutieren. Die beiden haben so eine Art, jedes Thema zu einer Grundsatzdiskussion zu machen. Mo baut ein Argument auf, sorgfältig, wie eine Mauer, Stein auf Stein, Satz auf Satz. Bis Eleanor dann mit einem einzigen Einwand das ganze Gebäude auf einmal zum Einsturz bringt. Dann geht es von vorne los und genau das scheint ihr Ziel zu sein. Sie wollen gar nicht Recht haben. Ideenschach, nenne ich es heimlich in meinem Kopf, weil sie ihre Gedanken genauso hin und her zu schieben, wie die Figuren auf dem Brett. Ehrlich, ich habe noch nie jemanden getroffen, der so viel Spaß beim Denken hat.

„Ihr bekommt eure Kleider schon", reißt mich Eleanor aus meinen Gedanken. „Wie klappt's denn mit dem Üben?"

„Geht voran." Bevor ich überhaupt den Mund öffnen kann, hat Mo schon für mich gesprochen. „Zumindest haben in letzter Zeit keine Computer mehr gebrannt."

„Dann lasst mal sehen."

Mo wirft mir einen Blick zu und ich zucke mit den Schultern. „Von mir aus."

Eleanor schwingt die Beine vom Sessel und setzt sich gerade hin. „Mit welchem Trigger arbeiten wir heute?"

„Dem gleichen, der meinen Laptop abgefackelt hat."

„Spannend. Na, dann sprich."

Mir ist klar, dass Eleanors Blick auf mir liegt, als ich die Augen schließe und mich konzentriere. Soll sie doch spöttisch sein, ich habe nichts zu verbergen. Mo und ich machen gute Fortschritte. Dank seines Unterrichts kann ich meine Gabe mittlerweile zumindest steuern. Wenn ich sie ein paar Mal in der Woche kontrolliert einsetze, schützt mich das vor nicht geplanten Ausbrüchen. Wir verwenden einen Trigger, meistens eine Emotion, die mit leichter Wut verknüpft ist. Mo sagt, wenn ich geübter bin, werde ich die Schatten durch meinen bloßen Willen rufen können, aber für den Anfang ist der Weg über Emotionen der Verlässlichste und Einfachste.

„Mich nervt, dass Kilian in Deutsch immer bevorzugt wird. Der schreibt nicht besser als ich, nur anders. Alles was er macht ist immer wertvoll und meins trivial. Wer bestimmt das denn?"

„Bleib beim Thema", sagt Eleanor, „Was genau nervt dich?"

„Kilian!"

„Präziser."

„Dass er bevorzugt wird. Dass er-"

„Noch präziser. Wie fühlst du dich dabei?"

Ich zögere einen Moment, schlucke. „Unsichtbar", murmele ich. „Wertlos."

„Und das macht dich...?"

„Wütend. Nein-" Ich lasse das Gefühl in mir aufsteigen, fühle die schmerzende Kugel in Kehle und Brust. „Traurig."

„Beschränke das Gefühl auf einen kleinen Teil deines Körpers. Vermeide, dass es sich ausbreitet und zu viel Raum einnimmt. Jetzt lass den Gedanken gehen und konzentriere dich nur noch auf das Gefühl."

Beide Hände auf meine Oberschenkel gepresst, senke ich den Kopf. Ich brauche dieses körperliche nach innen gehen, damit ich es geistig schaffe. Ein letztes Mal atme ich tief durch, bevor ich die Worte flüstere: „De profundis." Aus der Tiefe.

Weder Eleanor noch Mo machen auch nur den leisesten Mucks und so kann ich meine Stimme durch den Raum wispern hören. Die Worte sind kein Zauberspruch, eher eine Art Ritual. Ein Mantra, das mir selbst signalisieren soll, was jetzt kommt. Ich lasse zu, dass mich das Gefühl durchströmt, bis an die Grenzen meines Brustkorbs. Dann merke ich, wie sich die innere Barriere öffnet. Ich tauche hinab, tiefer und tiefer in die bodenlose Schwärze, schöpfe aus der Dunkelheit und zerre sie ans Licht.

Ein Schatten schlängelt sich aus meiner Hand.

„Gut." Eleanor steht auf. Sie geht zum Holzstapel neben dem Kamin und nimmt sich einen Scheit. Dann setzt sie sich wieder mir gegenüber und stellt ihn zwischen uns auf den Boden.

Meine Augen sind auf das Holz fixiert. Vor Anstrengung fangen meine Knie an zu zittern. In Gedanken kann ich Eleanors spöttische Miene schon vor mir sehen und das gibt den entscheidenden Schub:

Mit einer einzigen Handbewegung hebt sich mein Schatten in die Luft und stößt wie ein Schwert durch den Scheit. Er raucht nicht einmal, als er in saubere Hälften geteilt auf den Teppich fällt.

Eine Weile sagt Eleanor kein Wort. Ihr Blick wandert langsam vom gespaltenen Holz zu meinem Gesicht: „Schön."

Ich will ihr gerade antworten, als ich plötzlich, dicht neben meinem Ohr, einen schwarzen Umriss auf mich zurasen sehe. Mein Kopf fährt herum und bekomme gerade noch mit, wie das Ding mit einem lauten Knall gegen etwas knallt und abstützt.

Mo und Eleanor springen auf, fast zeitgleich.

„Was war das?", frage ich und drehe mich im Sessel von einem zum anderen. „Ein Vogel?"

Eleanors Miene ist wie versteinert und genau in den Moment knallt das nächste Teil gegen unsere Fassade. Oder nein, nicht gegen die Fassade. Das dritte Geschoss rast genau auf das Fenster zu, aber anstatt es einzuschlagen, prallt es gut drei Meter davor an einen unsichtbaren Widerstand.

Natürlich. Ein Schutzzauber.

„Das war kein Vogel", sagt Eleanor mit ruhiger, tödlich kalter Stimme. „Das ist ein Angriff."

FabelblutWhere stories live. Discover now