Das Falsche, Böse und Hässliche (1)

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„Na, Lina? Kommst du zurecht?"

Ich verdrehe die Augen, als ich die Stimme meiner Deutschlehrerin hinter mir höre. Eleanor und ich wenden uns gleichzeitig um.

„Alles bestens, Frau Müller-Huber."

„Wunderbar." Sie schaut strahlend zwischen mir und Eleanor hin und her. Wie immer sieht sie aus, als käme sie geradewegs von einer Anti-Atomkraft Demo. Sie hat sogar selbstgemalte Sonnenblumen auf den Sneakers. Kein Scherz. „Oh! Neue Schülerin?"

Eleanor macht ein Gesicht, als würde sie ihr gerne eine verpassen. Offenbar versteht sie so viel deutsch. Ihre dunklen Augenbrauen wandern immer höher, als sie meine Lehrerin mustert, von der bunten Pluderhose, bis zu den selbstgefilzten Ohrhängern und zurück. „Ich bin Linas Tante", sagt sie dann auf Englisch, und nicht besonders freundlich.

„Wirklich?", meine Lehrerin wechselt zu diesem schrecklich affektierten Englisch, das Leute an den Tag legen, die nochmal extra zeigen wollen, wie perfekt sie sprechen. „Spannend. Was ist das für ein Akzent? Kommen Sie aus England?"

Autsch. Böser Fehler.

Eleanors Stimme wird noch eine Spur kühler. „Schottland. Aber ich unterrichte in England."

„Sie sind Lehrerin? Dann hat Lina Ihnen sicher von ihrem Schreibprojekt erzählt?"

Eleanor wirft mir einen verwirrten Blick zu und ich schaue zu Boden. Ganz toll. Jetzt darf ich die peinliche Nummer nochmal vor Eleanor ausbreiten. Als ob der Tag nicht eh schon für die Tonne wäre. „Wir müssen, ich meine, wir dürfen in Deutsch einen Text zum Thema Helden schreiben. Das zählt dann die Hälfte der Note. Und ich muss. Naja. Nochmal von vorne anfangen."

Eleanor zieht die Brauen zusammen. „Warum?"

„Mein erster Versuch war halt so klassische Fantasy."

„Und?"

„Wir schreiben hier Literatur", unterbricht meine Deutschlehrerin mit einem gezierten Lächeln, ganz so, als könne sie nicht glauben, dass Eleanor wirklich eine Kollegin sein soll.

Eleanors Brauen ziehen sich noch ein Stück enger zusammen. „Fantasy ist Literatur."

Trivialliteratur." Meine Lehrerin lächelt unentwegt, aber ihre Augen machen nicht mehr so ganz mit. „Ich spreche von Auseinandersetzungen mit wichtigen gesellschaftlichen Themen. Meine Schüler sollen die Wahrheit zu Papier bringen. Keine schönen Lügen."

„Interessante Einstellung", sagt Eleanor und meine Lehrerin will schon zufrieden grinsen, bis sie hinzufügt: „Ziemlich neu, allerdings. Über Jahrhunderte galten Wahrheit und Schönheit nicht als Gegensätze. Im Gegenteil. Schönheit war ein zentrales Merkmal der Wahrheit und wichtiger Literatur."

„Ach ja", das Lächeln meiner Lehrerin wird ein wenig schief. Sie schaut wie ein Sportler, der gerade im unterschätzten Außenseiter seinen Hauptrivalen erkennt. „Die alte Idee vom Wahren, Guten und Schönen. Sehen Sie, das ist mein Problem mit Fantasy. Erstens der Eskapismus. Und dann ist es immer das schöne Gute gegen das hässliche Böse. Ich denke dieses Gut gegen Böse hat sich mittlerweile überholt, finden Sie nicht?"

„Nein." Eleanor schaut meiner Lehrerin fest in die Augen. Die beiden sind ungefähr gleich groß und es können nicht mehr als zehn Jahre Altersunterschied zwischen ihnen liegen. Aber neben Eleanor wirkt meine Lehrerin wie eine Studentin, die gerade ihre Sturm-und Drang Phase nachholt. „Haben Sie jemals Tolkiens On Fairy Stories gelesen?"

Hat Frau Müller-Huber nicht, dem Blick nach zu schließen.

„Ich verstehe nicht, warum man Fantasy immer noch vorwirft, sie würde zur Flucht in eine bessere Welt verleiten?", sagt Eleanor. „Jede Fantasywelt ist die Schöpfung eines Menschen und jeder Mensch hat Fehler, oder nicht? Jede Fantasywelt ist somit ein Spiegel menschlicher Gesellschaft, mit den gleichen Konflikten, aber neuen, interessanten Lösungen. Das hilft uns, die Dinge von außen zu betrachten, aus einem neuen Blickwinkel. Was soll daran schlecht sein?"

Mittlerweile haben sich ein paar meiner Mitschüler zu uns umgedreht. Ich bin vollkommen baff. Für einen Moment vergesse ich sogar, dass ich eigentlich sauer auf alle beide bin.

„Um auf Ihre Frage zurückzukommen", fährt Eleanor fort, „Ich denke, die Fantasy ist die einzige, die das Böse heute noch ernst nimmt. Die meisten Autoren der Hochliteratur versuchen alles Schlechte im Menschen psychologisch weg zu erklären. Oder sie verherrlichen es gar. Tolkien und Lewis haben mehr über den Menschen verstanden, als so mancher moderner Autor. Sie waren nicht naiv, was das Böse betrifft. Heute stehen wir wie das Kaninchen vor der Schlange, wenn wieder irgendein Tyrann einen Krieg anfängt und fragen uns Wie konnte er nur? Wir sind so überrascht von der Bosheit anderer, weil wir blind gegenüber unserer eigenen sind. Tolkien wusste es besser. Und auch damals wussten sie es." Eleanor nickt mit dem Kopf in Richtung des Bildes. „zu was das Böse im Menschen fähig ist und was es braucht, es zu überwinden. Opfer und Demut. Keine besonders populären Dinge in einer Zeit, in der jeder glaubt, alles werden zu dürfen, meint auch alles werden zu können, richtig? Die Künstler der Vergangenheit dachten anders. Nehmen Sie Michelangelos Pieta, die perfekte Darstellung des menschlichen Dramas von Opfer, Tod und Liebe. Das ist große Kunst, die berührt einen, wenn man sie anschaut, einfach weil wir tief im Innern spüren, dass sie schön und wahr ist. Nicht so wie das da, das man erst versteht, wenn man telefonbuchdicke Erläuterungen gelesen hat." Wieder nickt sie dem kiffenden Jesus Bild zu. „Wahrheit und Schönheit brauchen keinen Untertitel. Sie sprechen immer für sich selbst."

„Ich." Meine Lehrerin öffnet den Mund. Sie sieht mindestens so erschlagen aus, wie ich mich fühle. Vielleicht kommt sie bei so schnellem Englisch mit schottischem Akzent auch einfach nicht mehr mit. „Ich denke meine Argumente-"

„-sind halbdurchdachtes, pseudointellektuelles Geschwätz mit dem die Literaturelite ihr Dasein berechtigt", sagt Eleanor und allein bei ihrer Sprechgeschwindigkeit bekomme ich einen Knoten im Kopf. „Trotzdem eine interessante Diskussion. Schönen Tag noch." Sie greift in ihre Manteltasche und bläst meiner Lehrerin eine Wolke goldenes Glitzerpuder ins Gesicht.

Frau Müller-Huber blinzelt, verwirrt. Sie sieht ziemlich dümmlich aus, wie sie da so steht, mit offenem Mund. Auch meine Klassenkameraden reiben sich den Staub aus den Augen. Einer nach dem anderen wenden sie sich wieder den Bildern zu, als seien sie plötzlich unglaublich spannend.

Eleanor ist schon auf dem Weg zum Ausgang. „Frag nicht, komm einfach! In ein paar Minuten verliert es seine Wirkung."

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