Ein Piranha in der Arztpraxis

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„Ich warte nun schon seit fünfzehn Minuten, dabei habe ich mir doch extra einen Termin geben lassen!"

Der Mann am Empfangstresen meiner Hausarztpraxis sieht aus wie ein umgedrehtes, rotes Ausrufezeichen, das jeden Moment in die Luft zu gehen droht. Ich schätze ihn auf Mitte fünfzig; der Körper lang, der Kopf klein und rund, kein Hals. Wie kann dieser Mensch aufrecht gehen, denke ich mir, ehe ich feststelle, dass er sich an der Theke festklammert wie ein Affe. Sein Bein ist geschient. Der Arzthelferin stehen die Schweißperlen auf der Stirn. Ich habe Mitleid mit ihr. Mitleid, dass manche Menschen so wenig Verständnis für ihren wichtigen Beruf haben und Mitleid, weil sie solche Typen tagtäglich aushalten muss. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, wäre ich schon längst dreifache Mörderin. Oder könnte man es bei Totschlag im Affekt belassen? Oder Notwehr? Vielleicht, wenn ich einen besonders guten Anwalt und einen extrem schlechten Tag hätte. Auf Bewährung würden sie mich jedenfalls nicht raushauen können.

„Es tut mir leid, aber wir haben gerade einen Notfall hereinbekommen. Wir kümmern uns um Sie, so schnell es uns möglich ist. Bitte nehmen Sie noch einen Moment im Wartezimmer Platz. Ich werde Sie dann aufrufen." Ihre Stimme klingt freundlich, aufbauend.

Der Mann reißt sein Maul auf. Wie viele Zähne hat eigentlich ein Piranha? Ich zähle nach und stelle fest, dass ich es nicht kann, weil sein Mund pausenlos unkoordinierte Bewegungen und sein Kehlkopf unharmonische Töne verursachen. „Dann werfen sie ihn raus. Ich wette, der hat keinen Termin, so wie ich, oder?! Ich bin fußlahm, und kein Simulant, verdammt nochmal! Hätte der sich nicht auch einen Termin geben lassen können wie normale Leute?!"

Normale Leute, denke ich mir und lache spöttisch auf. So normal wie der Mann, der inzwischen so laut geworden ist, dass es schon in spuckendes Schreien ausufert und derselbe Mann, der nun mit der geballten Faust auf den Tresen schlägt. Ich zucke zusammen. Die Arzthelferin zuckt mit keiner Wimper. Ein kleines Kärtchen fliegt auf den Boden und ich hebe es auf. „Entspannungsoase Sandmann", steht dort in schwungvoller Serifenschrift einladend geschrieben. Ich stecke es dem Mann in seine Jackentasche. Er bemerkt nicht einmal, dass sich neben ihm gerade jemand gebückt hat. Seine Augen versuchen noch immer, die Angestellte aufzufressen, aber ihrer Professionalität nach zu urteilen, würde er sich an ihr den Magen verderben.

Die Schlange ist mittlerweile mehrere Meter lang und reicht um die Kurve bis zur Garderobe. Ein kleiner Junge, dem allmählich die Augen zufallen, setzt sich auf die Schuhablage und lehnt sich mit dem Kopf gegen die Beine seiner Mutter. Ihre Finger liegen auf seiner Schulter. Er sieht fiebrig aus.

„Der Patient ist ein Notfall und wird ganz sicher nicht ohne Behandlung weggeschickt", sagt die Angestellte resolut. Ein Engel in Weiß, denke ich mir. Und Nerven wie reißfeste Stahlseile. Aber auch dem Engel können Hörner wachsen, wenn es sein muss.

Der Piranha funkelt sie böse an. „Was kann so dringend sein, dass der ganze Betrieb deswegen lahmgelegt wird? Sehen Sie denn nicht, wie viele Menschen nach mir schon rumstehen und warten?! Die haben doch auch Termine!", blubbert er.

„Es rührt mich, dass Sie um die Tagespläne Ihrer Mitmenschen besorgt sind. Aber im Moment sind Sie der Einzige, der hier alles aufhält. Dort drin wird gerade ein Mensch wiederbelebt, und wir wissen nicht, ob er es schafft. Sie benehmen sich hier wie der Kaiser persönlich und erwarten eine Sonderbehandlung, weil Sie vor vier Wochen beim Klettern die Sicherheitseinweisung ignoriert haben!"

„Aber das dürfen Sie ni..."

„Setzen. Sie. Sich. Dort. Hinten. In. Das. Wartezimmer. Bis. Sie. Dran. Sind!"

Man könnte meinen, dass diese deutliche Ansage bei jedem noch so begriffsstutzigen Individuum Wirkung zeigen würde, aber mir scheint, wir sind hier inzwischen in der Wildnis angelangt. Irgendwo zwischen „Planet der Affen" und „Megadolon". Aber wer den zweiten Film gesehen hat, weiß auch, dass der vermeintlich größte Fisch nur so lange der Platzhirsch bleibt, bis der eigentliche Chef auftaucht. In diesem Fall wäre das die Ärztin, die offensichtlich verhindert ist. Allerdings habe ich den Eindruck, dass die Arzthelferin weiterhin einwandfrei alleine zurechtkommt. Manchmal muss man eben sein eigener Herr sein. Oder Frau.

„Ich werde mich über Sie beschweren. Es ist eine Zumutung, wie man hier behandelt wird!" Die Augen des Mannes treten hervor. Mittlerweile glänzt auch seine Stirn; nur seine Schuppen verlassen ihren Posten nicht und lugen wie Schneeflocken aus seinem schütteren Haar hervor.

„Bisher wurden Sie überhaupt nicht behandelt, weil Sie nicht unsere oberste Priorität sind. Außerdem habe ich gerade im System nachgeschaut. Ihren Termin hatten Sie am vergangenen Freitag abgesagt. Grundlos. Dort hinten ist das Wartezimmer." Ihre resoluten Worte hallen im Flur wider und zum Fenster hinaus. Lehrreiche Botschaften muss man mit anderen teilen, denke ich mir. Dem medizinischen Personal scheint generell eine besondere Fähigkeit gegeben zu sein, wonach sie ihren Gegner in mehreren, sich steigernden Stufen zur Strecke bringen können. Womöglich eine lebenserhaltende Funktion?

Der Mann schnappt nach Luft. Ist er ein Schauspieler? Irgendwo muss es doch eine versteckte Kamera geben. Wo sind Guido Cantz oder Frank Elstner, wenn man sie braucht? Die Frau hinter mir wird langsam ungeduldig, traut sich jedoch nicht, ihm die Meinung zu sagen. Ich sehe es an ihrem Blick, dass sie ihn am liebsten aufspießen würde. So geht es wohl auch dem Rest der Schlange, aber das Programm geht nahtlos weiter.

„Jetzt hören Sie mir mal zu. MEINE MUTTER LIEGT IM STERBEN UND ICH MUSS ZUM FLUGHAFEN!" Er schnaubt kraftlos auf. Totenstille. Das hatte keiner ahnen können. Er wirkt ernst und aufrichtig; nicht hysterisch. Seine Augen haben ihren Weg zurückgefunden. Vielleicht war ich doch etwas zu vorverurteilend. Sicher, sein Benehmen sollte man nicht rechtfertigen. Aber in diesem Zusammenhang kann man vielleicht ein bisschen mehr Verständnis für seine Situation aufbringen. Abgesehen von seinen unvorhersehbaren Wutausbrüchen scheint er ein solider, mit beiden Flossen fest im Leben stehender Wasserbewohner zu sein.

Plötzlich klopft ihm eine Hand derbe auf den Rücken. „Mensch, Hanno, alter Sandsack, was macht die Frührente? Gerade hab ich deine Mutter getroffen. Sie sitzt im Garten, hat die Beine hochgelegt und genießt das traumhaft sonnige Wetter. Gut sieht sie aus. Total entspannt. Aber ein Cocktail fehlt ihr noch."

Es gibt Menschen, die eine schwere Rolle spielen müssen. Für die einen sind sie ein Held; für die anderen der Verräter. Und unser Anti-Pinocchio scheint einer aufschlussreichen Doppelbeschäftigung nachzugehen.

Die Arzthelferin dreht ihren Kopf langsam in Richtung spuckender Fisch. „Ich denke, dass der Notfall länger dauern wird. Das Wartezimmer ist noch immer da drüben; wir haben es in den letzten fünf Minuten nicht umgesiedelt." Ihr spitzer Zeigefinger verweist auf den Wartebereich. Der Mann nimmt murrend seine Geldbörse, dreht sich um und watet wie ein vom Regen überraschter Hund auf seinen Thron der Schande zurück. Die Blicke der anderen Wartenden verfolgen seine Schritte wie ein Zielfernrohr und bohren sich giftpfeilartig in sein schneeweißes Gesicht. Mit geschlossenem Mund sieht er fast harmlos aus.

„Bitte kommen Sie näher", sagt die Arzthelferin höflich zu mir. Ich bin erstaunt, dass sie noch Nerven für mich übrig hat.

„Ich bewundere ihre Geduld, Frau ... Wagner", lese ich auf ihrem Namensschild. Sie lächelt. „Sie sind die Erste seit drei Wochen, die mich mit meinem Namen anspricht. Die meisten sehen mir kaum in die Augen."

„Wer anderen nicht auf Augenhöhe begegnen kann, läuft irgendwann gegen eine Mauer", entgegne ich. Zustimmendes Raunen in der Warteschlange, die inzwischen nicht mehr wie eine stur-starre Boa aussieht, sondern vielmehr wie ein belehrt-interessierter Tausendfüßler.

- 06.09.22 / 10.09.22

Ein Piranha in der ArztpraxisWhere stories live. Discover now