11. Entscheidung: Das Schlucken einer Pille zu verweigern

62 4 3
                                    

Bevor ich eine Antwort erhalte, öffnet sich die Zimmertür und die Alte tritt ein. Schlagartig verschwindet die engelshafte Gestalt. Erschrocken schaue ich mich um. Wohin ist sie verschwunden?

"Wonach suchst du?", höre ich die Stimme neben mir sagen. Sofort werde ich wieder zurück in die Realität katapultiert. Verwirrt und gleichzeitig bemüht, möglichst schnell wieder in diese Welt zurückzufinden, sehe ich die Alte an. "Ich ähm, ich hatte bloss so eine Vision", stammle ich vor mich hin. Skeptisch krampft die Alte ihren schrumpeligen Mund zusammen und beobachtet mich genau, als hätte sie irgend einen Verdacht und würde jetzt darauf warten, dass sie einen Beweis dafür findet, dass sich dieser bestätigt. Und den scheint sie gefunden zu haben, denn als ich mich beschämt von ihr abwende, setzt sie sich zu mir auf das Bett und setzt wieder ihr ich-bin-immer-freundlich-und-einfühlsam-Lächeln auf. "Du kannst mir alles erzählen, weisst du. Ich bin da, was auch immer du mir sagen möchtest. Oh ja, ich habe ganz vergessen mich vorzustellen. Ich bin Karla Blum, aber du kannst mich Karla nennen." Sie streckt mir die Hand entgegen. Ich reiche ihr meine. "Lena", murmle ich und merke kurz darauf, dass diese Ergänzung gar nicht nötig gewesen wäre, da Karla mich aus unerklärlichen Gründen schon die ganze Zeit geduzt hat. "Freut mich", erwidert Karla freudig. "Ich werde dich vor allem tagsüber betreuen. In der Nacht wird sich Patrick um dein Wohl kümmern." Betreuen? Um mein Wohl kümmern? Ich bin doch kein Kleinkind mehr! "Und in welcher Einrichtung befinde ich mich denn gerade, wenn ich fragen darf?", frage ich Karla in einem möglichst ruhigen und friedlichen Ton, in der Hoffnung, diesmal eine Antwort zu erhalten. "Oh, Schätzchen das weisst du noch nicht? Du hast einen Suizidversuch hinter dir. Du wurdest in die psychiatrische Klinik eingeliefert, damit du dir so etwas nicht nochmals antun kannst." Mein schlimmster Albtraum wird wahr. Ich bin in der Klapse gelandet. Jetzt ist mein Leben definitiv am Ende. Wieder beginnen meine Augen zu brennen. Ich kann meine Tränen gerade noch zurückhalten, doch Karla scheint meine Weinattacke schon bemerkt zu haben. "Ich weiss, das ist wahrscheinlich gerade ein riesiger Schock für dich. Aber du wirst dich daran gewöhnen, hier zu sein, glaub mir." Ich glaube dir gar nichts du alte, hinterlistige Schlange! Und überhaupt, wie kann es einem hier besser gehen? In diesem ärmlich eingerichteten, nach Desinfektionsmittel stinkenden, steril weissen Raum kann man ja nur verrückt werden. Sogar ein Gefängnis wäre gemütlicher eingerichtet. Und die scheintote Karla, dieser Kotzbrocken von Krankenschwester, trägt auch nicht gerade viel zu meiner psychischen Gesundheit bei.

"Nimm die bitte. Sie wird dafür sorgen, dass du etwas stabiler wirst.", unterbricht Karla meine Gedanken und streckt mir eine noch verpackte Pille entgegen. Ich packe sie aus und betrachte sie angewidert. "Ich werde so lange hier warten, bis du sie geschluckt hast.", droht Karla. Ich lege die kleine, blaue Pille auf meine Handfläche und als ich diese in die Richtung meines Mundes führen will, blitzt vor meinen Augen ein schneeweisses, intensives Licht auf. Das Wesen! Es ist zurück! "Nimm sie nicht", haucht mir eine sanfte Stimme ins Ohr. Einen kurzen Augenblick lang kommt mir der Gedanke, dass ich diese Stimme von irgendwoher kenne. "Was ist nur los mit dir, hm? Was hält dich davon ab, das Medikament zu nehmen?", schnauzt mir Karla unverhofft entgegen. "Ich darf, ähm, kann nicht.", stottere ich. "Wer hält dich denn davon ab?", forscht Karla nach. "Ni, nie, niemand", erwidere ich. "Naja, dann nimmst du sie eben später. Solange bringe ich dich jedoch in ein anderes Zimmer, da ich nicht nochmals von dir geschlagen werden möchte." Sie zwinkert mir aufmunternd zu und wir verlassen gemeinsam das Zimmer. "Heute Abend hast du das erste Gespräch mit deinem Psychiater Doktor Schulz. Ich werde ihn auf dein komisches Verhalten ansprechen. Er wird dir eine Diagnose stellen, damit du sobald wie möglich mit deiner Therapie beginnen kannst.", teilt sie mir mit. Der Flur wird von Neonröhren beleuchtet und der Raum, in den mich Karla abschiebt, ist nicht weniger trist eingerichtet als all das, was ich bisher vom Innern des Gebäudes vernommen habe. Keine Farbe. Keine Bilder. Kein Leben. Nur etwas unterscheidet diesen Raum vom vorherigen. Die Wand ist mit einer dicken Auskleidung ausgestattet. Als ich sie berühre, merke ich wie weich sie ist. Bestürzt stelle ich fest, dass sie aus Gummi besteht.

Die Tür kracht zu. Karla ist gegangen. Ich höre ihre Schritte im Gang. Das dumpfe Geräusch, das beim Aufsetzen der Füsse auf den harten Boden entsteht, wird immer leiser, bis es schliesslich ganz verstummt. Sie hat mich einfach hier zurückgelassen. Allein.

Choice - Du hast die WahlWhere stories live. Discover now