Der Gute-Nacht Versuch

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Im Flur flackert noch die Glühbirne der Lampe, als die Mutter im Bleistiftrock und ihrer frischen Nylonstrumpfhose ins Zimmer des kleinen Jungen kommt. Sie hat die Aufgabe, und dass darf nur sie, die Vorhänge des Zimmers zu zuziehen, zuerst den Schrank zu öffnen und ganz langsam, Hemd für Hemd, Jacke für Jacke und Hosen für Hosen nach kleinen Monstern durchzusuchen. Ist sie, wie immer, nicht fündig geworden, so kniet sie sich nieder und tastet einmal unter dem Bett des Kleinen und berührt immer kurz den Koffer, macht dabei Geräusche, als würde sie einen Kampf austragen. Vollkommen erschöpft setzt sie sich schließlich an den Bettrand und wischt einmal ihren Rock sauber. Ihre Haare streicht sie sich zur Seite.

„Das Monster war heute grün! Aber ich habe es besiegt, ganz schön hartnäckig das kleine Ding", sagt sie und schüttelt vielsagend den Kopf. Ihre Augen reißt sie sich glaubwürdig auf und der Kleine kriecht unter seine Decke.


„Ist es auch wirklich weg?", ohne das Wort »Tod« zu benutzen obgleich er es schon kannte oder nicht, bildete er seinen Satz. Denn mit dem Tod spielt man nicht, »Tod« steht gleichzeitig im Verhältnis zu »Leben«. Und man spielt nicht mit dem Leben.


„Ja, das verspreche ich dir", sie gab ihm wie immer einen Nachtkuss auf die Stirn und streichelte dabei seinen Kopf. Sie umhüllte ihn mit ihrer Liebe und rückte nochmal die Decke zurecht, frieren sollte er nicht.


Sie war schon dabei sich von ihm zu verabschieden, als er sie fragte: „Wie ist das eigentlich, einen Rock zu tragen?", er richtete sich im Bett auf, stütze den Körper auf seine Ellenbogen und sah die Mutter fragwürdig an.


„Daran ist nichts ungewöhnlich, das tragen Frauen nunmal so", entgegnete sie und runzelte ein wenig die Stirn, nachdem sie zu ihrem Kind sah.


„Mama, ich möchte das morgen auch mal tragen. Ich will damit zur Schule gehen!", vollkommen fasziniert von dem Stück Stoff zauberte er ein Lächeln auf seine Lippen und sah seine Mutter hoffnungsvoll an, die nur das Gesicht verzog.


„Du kannst doch keinen Rock anziehen, du bist ein Junge! Schlaf jetzt", mit einem Lachen will die Mutter schon vom Bett aufstehen und durch die Tür gehen. Bewusst was sie denkt und tut, erhebt sie sich, ehe der Junge sie zurück zieht.


„Aber warum darf ich denn nicht?", verwundert und doch genau wissend über die Antwort, starrt er die Mutter an.


„Weil du ein Junge bist, hab ich doch schonmal gesagt. Dein Vater trägt das ja auch nicht", die Mutter wirkt nervös und pustet sich ihre heruntergefallene Strähne wieder nach oben.


„Aber ich kann doch machen was ich will. Ich bin doch kein Sklave!", empört zog er die Augenbrauen zusammen und wartete darauf, was seine Mutter zu sagen hatte. Wer jetzt, er würde ohne Ahnung in das Messer laufen, der hätte sich buchstäblich geschnitten.


„Natürlich hast du die Freiheit zutun und zu lassen was du willst, aber du musst auch Regeln einhalten!", unbewusst was die Mutter sagte, hatte der Junge das gehört, was er hören wollte.


„Ich bin ein freier Mensch, Mama!", glücklich den goldenen Schlüssel gefunden zu haben, fuhr er fort.


„Aber du kannst nur frei sein, wenn du dich an Regeln hältst", sagte seine Mutter und schnitt ihm das Wort ab. Er wieder holte ihre Sätze in seinem Kopf und versank.

„Das ist doch eine furchtbare Welt. Das, das geht doch nicht!", schrie er schon fast und hatte die Hoffnung, seine Mutter würde lügen.


„Man ist nicht frei, wenn man sich an Regeln halten muss", erbost guckte er sie an, sie verstummte.


„Ich wünschte es wären mehr Menschen wie du", seufzte sie und sah ihn an. „Unsere Welt könnte solche Denker gut gebrauchen."


Du bist nur frei, wenn du dich an Regeln hältst.


-


„Mama, ich will noch nicht schlafen", sagte er nach einer Weile und sah sie nur beklemmt an. „Ich möchte noch weiter reden"


„Du musst aber schlafen", entgegnete sie und hoffte, er würde endlich die Augen zu machen.


„Mama, warum gibt es solche Menschen denn nicht? Die Gedanken gehen so schnell in meinen Kopf", unverständlich sah er nun nicht mehr zur Mama sondern ganz gerade gerade aus. Als lege er im Totenbett und hätte nichts besseres zu tun, als die öde weiße Wand anzustarren und über sein leben nach zu denken.


„Es gibt sie mein Schatz", besänftigte sie ihn und lächelte. „Sie zeigen sich nicht nur gerne", die Mutter blickte zur Seite.


„Warum tun sie das?", er zeigte nur langsam wieder Interesse an der Unterhaltung. Er fühlte sich so leer, das was er dachte, war tatsächlich wahr geworden. Nun wünschte er sich, er hätte es nie ausgesprochen sondern alles still akzeptiert. Es wäre einfacher gewesen.


„Es wäre rassistisch nach der Intelligenz zu urteilen, dafür kann ja keiner was", sprach sie allwissend, während er ihr nur folgte und mit jedem Wort neue Gedankengänge lernte.


„Es muss etwas geben, was jeder verändern kann. Jeder muss die selbe Chance haben. Es ist einfacher schön zu sein, als intellektuell. Das wissen die meisten, deswegen verstecken sie sich. Wenn du diese Gedanken jemanden erzählst, wirst du es nur schwer haben. Du würdest nur alleine bleiben. Aber denk daran, ich liebe dich. Jetzt schlaf"


Sie knipste das Licht aus und verließ das Zimmer, zog die Tür zu und lauschte, ob ihr Kind noch etwas sagen würde.


Intelligenz kann man nicht antrainieren, deswegen wäre es rassistisch nach Intelligenz zu urteilen.

*

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Vielen Dank im Voraus. :-)

Der Gute-Nacht VersuchWhere stories live. Discover now